Engel(1922) Das Beiwort 2: Unterschied zwischen den Versionen

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|KapitelText=lich: unzulässig. Aber Goethe hat so geschrieben! Hm, ja dann —. Oder wie über ,verschmitzte Frauenrollen'? Wohl ebenso tadelnswert; aber — sie stehen bei Lessing. Wer hat nicht schon von der ,ländlichen Arbeiterfrage, der großstädtischen Dienstbotennot, einem geistlichen Musikfest, einem katholischen Kirchenbau, dem geheimen Stimmrecht' gelesen? Oder wer hat sich etwas Schlimmes gedacht bei einem Deutschen Wör-terbuch, bei Goethes Italienischer Reise, bei französischem oder englischem Sprachunterricht? Die Gewöhnung macht manche mmer wiederkehrende, eigentlich unstimmige Verbindung an-nehmbar, und gegen die Sauregurkenzeit und den Dumme-jungenstreich, ja selbst gegen die vielbelachte höhere Mädchen-schule ist kaum etwas einzuwenden; gegen die letzte schon darum nichts, weil ,höhere' nicht notwendig auf ,Töchter' be-zogen werden muß, sondern eher auf ,Schule'.
|KapitelText=Das Beiwort muß echt sein, d. h. eine innere, begründete eigenschaftliche Bedeutung haben und nicht bloß äußerlich ,bei' dem Hauptwort stehen. Einen eßbaren Apfelbaum gibt es nicht, also darf man nicht einen Apfelbaum so nennen, dessen Früchte eßbar sind. Die zahlreichen Verstöße gegen diese ver-nünftige Grundregel faßt man unter dem Musterbeispielwort ,die reitende Artilleriekaserne' zusammen. Es ist nach-grade zu einem lustigen Spiel geworden, Wendungen von auserlesener Lächerlichkeit für diesen Fehler zu sammeln, dar- $Seite 126$unter allerlei selbstverfertigte, die jedoch ebenso belehrend sind wie die echten Fälle des unechten Beiwortes. Hier folgt eine kleine spaßige Sammlung: ,Niedrige Ertragsgerüchte, künst-liche Wasserfabrik, keimfreie Eisgesellschaft, künstliches Blumen-geschäft, elektrischer Bahnkontrolleur, umklappbarer Kranken-stuhlagent, frischgestochner Spargelverkauf, der ein- und zwei-spännige Kutscher, der dreistöckige Hausbesitzer, die verfaulte Obstfrau und der gedörrte Obsthändler, der garantiert wasser-dichte Tuchfabrikant, der rohe Seidenhändler, die verwahr-loste Kinderanstalt, die verheiratete Lehrerstelle, die hoch-stämmigen Eichenzweige, der ausgestopfte Tierhändler.' Hübsch erfunden ist die rauchlose Pulverfabrikantentochter, die einen schmalspurigen Eisenbahnbeamten heiratet; desgleichen die ge-panzerte feuer- und diebessichere Generaldepositärsgattin aus Graz. Nicht erfunden sind: ,Der zahlreiche Familienvater, der grobe Unfugsparagraph und der unorganische Naturfor-scher', dieser eine Schöpfung von du Bois Reymond. Und ganz und gar nicht erfunden, sondern noch mit meinen Augen in großen Buchstaben bezeichnet gesehen habe ich einst die berühmte ,Reitende Artilleriekaserne' im Norden Berlins, deren Deutsch allerdings aus der Zeit Friedrichs des Großen stammte. Über die Lächerlichkeit aller dieser echter und er-fundener Verquatschungen kann kein Zweifel bestehen, und einem leidlich aufmerksamen Schreiber wird dergleichen schwer-lich unterlaufen. In manchen Fällen läßt sich der Unsinn leicht beseitigen: aus dem alten Bücherhändler braucht nur ein Altbuchhändler, aus dem gedörrten Obsthändler ein Dörr-obsthändler, aus dem sauren Kirschenbaum ein Sauerkirsch-baum gemacht zu werden, und der vollendete Unsinn ist zu gutem Deutsch geworden. Goethe schrieb einmal ,der wilde Schweinskopf', sei's aus Nachlässigkeit, sei's in dem Gefühl, man werde ihn schon richtiger verstehen, als er's geschrieben habe.
Wie aber steht es mit einer Reihe von nicht so unzweifel-haften Verstößen gegen die allerstrengste Richtigkeit des sinn-vollen Zusammenhangs? Der wilde Apfelbaum ist richtig, denn der Baum selbst ist wild; darf man also auch sagen ,wilder Kastanienbaum'? Ich denke, mit demselben Recht; aber schon nicht mehr ,eßbarer Kastanienbaum', denn nicht der Baum, sondern die Kastanien sind eßbar. Und wie denkt der Leser über den ,plastischen Metallarbeiter'?  Wahrschein- $Seite 127$ lich: unzulässig. Aber Goethe hat so geschrieben! Hm, ja dann —. Oder wie über ,verschmitzte Frauenrollen'? Wohl ebenso tadelnswert; aber — sie stehen bei Lessing. Wer hat nicht schon von der ,ländlichen Arbeiterfrage, der großstädtischen Dienstbotennot, einem geistlichen Musikfest, einem katholischen Kirchenbau, dem geheimen Stimmrecht' gelesen? Oder wer hat sich etwas Schlimmes gedacht bei einem Deutschen Wör-terbuch, bei Goethes Italienischer Reise, bei französischem oder englischem Sprachunterricht? Die Gewöhnung macht manche mmer wiederkehrende, eigentlich unstimmige Verbindung an-nehmbar, und gegen die Sauregurkenzeit und den Dumme-jungenstreich, ja selbst gegen die vielbelachte höhere Mädchen-schule ist kaum etwas einzuwenden; gegen die letzte schon darum nichts, weil ,höhere' nicht notwendig auf ,Töchter' be-zogen werden muß, sondern eher auf ,Schule'.
Darüber, daß ,Zuntz sel. (seliger) Witwe' jenseits von Gut und Böse der Sprachlehre steht, wird kein Zweifel herrschen. Aber — bei Goethe heißt es einmal: ,Mein Mann seliger war bei Jahren'. Man sieht an dieser versteinerten Formel die Entstehungsgeschichte von Zuntz seliger Witwe.
Darüber, daß ,Zuntz sel. (seliger) Witwe' jenseits von Gut und Böse der Sprachlehre steht, wird kein Zweifel herrschen. Aber — bei Goethe heißt es einmal: ,Mein Mann seliger war bei Jahren'. Man sieht an dieser versteinerten Formel die Entstehungsgeschichte von Zuntz seliger Witwe.
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Version vom 4. Oktober 2016, 17:14 Uhr

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Buch Engel (1922): Gutes Deutsch. Ein Führer durch Falsch und Richtig.
Seitenzahlen 125 - 127

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Unsicherheit

In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle

Text

Das Beiwort muß echt sein, d. h. eine innere, begründete eigenschaftliche Bedeutung haben und nicht bloß äußerlich ,bei' dem Hauptwort stehen. Einen eßbaren Apfelbaum gibt es nicht, also darf man nicht einen Apfelbaum so nennen, dessen Früchte eßbar sind. Die zahlreichen Verstöße gegen diese ver-nünftige Grundregel faßt man unter dem Musterbeispielwort ,die reitende Artilleriekaserne' zusammen. Es ist nach-grade zu einem lustigen Spiel geworden, Wendungen von auserlesener Lächerlichkeit für diesen Fehler zu sammeln, dar- $Seite 126$unter allerlei selbstverfertigte, die jedoch ebenso belehrend sind wie die echten Fälle des unechten Beiwortes. Hier folgt eine kleine spaßige Sammlung: ,Niedrige Ertragsgerüchte, künst-liche Wasserfabrik, keimfreie Eisgesellschaft, künstliches Blumen-geschäft, elektrischer Bahnkontrolleur, umklappbarer Kranken-stuhlagent, frischgestochner Spargelverkauf, der ein- und zwei-spännige Kutscher, der dreistöckige Hausbesitzer, die verfaulte Obstfrau und der gedörrte Obsthändler, der garantiert wasser-dichte Tuchfabrikant, der rohe Seidenhändler, die verwahr-loste Kinderanstalt, die verheiratete Lehrerstelle, die hoch-stämmigen Eichenzweige, der ausgestopfte Tierhändler.' Hübsch erfunden ist die rauchlose Pulverfabrikantentochter, die einen schmalspurigen Eisenbahnbeamten heiratet; desgleichen die ge-panzerte feuer- und diebessichere Generaldepositärsgattin aus Graz. Nicht erfunden sind: ,Der zahlreiche Familienvater, der grobe Unfugsparagraph und der unorganische Naturfor-scher', dieser eine Schöpfung von du Bois Reymond. Und ganz und gar nicht erfunden, sondern noch mit meinen Augen in großen Buchstaben bezeichnet gesehen habe ich einst die berühmte ,Reitende Artilleriekaserne' im Norden Berlins, deren Deutsch allerdings aus der Zeit Friedrichs des Großen stammte. Über die Lächerlichkeit aller dieser echter und er-fundener Verquatschungen kann kein Zweifel bestehen, und einem leidlich aufmerksamen Schreiber wird dergleichen schwer-lich unterlaufen. In manchen Fällen läßt sich der Unsinn leicht beseitigen: aus dem alten Bücherhändler braucht nur ein Altbuchhändler, aus dem gedörrten Obsthändler ein Dörr-obsthändler, aus dem sauren Kirschenbaum ein Sauerkirsch-baum gemacht zu werden, und der vollendete Unsinn ist zu gutem Deutsch geworden. Goethe schrieb einmal ,der wilde Schweinskopf', sei's aus Nachlässigkeit, sei's in dem Gefühl, man werde ihn schon richtiger verstehen, als er's geschrieben habe. Wie aber steht es mit einer Reihe von nicht so unzweifel-haften Verstößen gegen die allerstrengste Richtigkeit des sinn-vollen Zusammenhangs? Der wilde Apfelbaum ist richtig, denn der Baum selbst ist wild; darf man also auch sagen ,wilder Kastanienbaum'? Ich denke, mit demselben Recht; aber schon nicht mehr ,eßbarer Kastanienbaum', denn nicht der Baum, sondern die Kastanien sind eßbar. Und wie denkt der Leser über den ,plastischen Metallarbeiter'? Wahrschein- $Seite 127$ lich: unzulässig. Aber Goethe hat so geschrieben! Hm, ja dann —. Oder wie über ,verschmitzte Frauenrollen'? Wohl ebenso tadelnswert; aber — sie stehen bei Lessing. Wer hat nicht schon von der ,ländlichen Arbeiterfrage, der großstädtischen Dienstbotennot, einem geistlichen Musikfest, einem katholischen Kirchenbau, dem geheimen Stimmrecht' gelesen? Oder wer hat sich etwas Schlimmes gedacht bei einem Deutschen Wör-terbuch, bei Goethes Italienischer Reise, bei französischem oder englischem Sprachunterricht? Die Gewöhnung macht manche mmer wiederkehrende, eigentlich unstimmige Verbindung an-nehmbar, und gegen die Sauregurkenzeit und den Dumme-jungenstreich, ja selbst gegen die vielbelachte höhere Mädchen-schule ist kaum etwas einzuwenden; gegen die letzte schon darum nichts, weil ,höhere' nicht notwendig auf ,Töchter' be-zogen werden muß, sondern eher auf ,Schule'. Darüber, daß ,Zuntz sel. (seliger) Witwe' jenseits von Gut und Böse der Sprachlehre steht, wird kein Zweifel herrschen. Aber — bei Goethe heißt es einmal: ,Mein Mann seliger war bei Jahren'. Man sieht an dieser versteinerten Formel die Entstehungsgeschichte von Zuntz seliger Witwe.

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Engel(1922) 125-127.pdf