Das Hauptwort 7. Die Mehrzahl *1
Buch | Engel (1922): Gutes Deutsch. Ein Führer durch Falsch und Richtig. |
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Seitenzahlen | 106 - 108 |
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Unsicherheit |
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In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle
Behandelter Zweifelfall: | |
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Genannte Bezugsinstanzen: | Gebildete, Sprachgelehrsamkeit, 18. Jahrhundert, Sprache der Vereine, Schreiber schlechten Stils, Gegenwärtig, 19. Jahrhundert, Alt, Goethe - Johann Wolfgang, Neu, Sprachverlauf, Sprache der Politik |
Behandelter Zweifelfall: | |
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Genannte Bezugsinstanzen: | Sprache der Vereine, Sprachverlauf, Sprache der Politik |
Text |
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Keine zweite Sprache besitzt annähernd solche Fülle von Sinnverschiedenheiten bloß durch die Mehrzahlformen wie das Deutsche, und wer einem Ausländer, oder sich selbst, einen überzeugenden Einblick in das reiche Innenleben unsrer wunderbaren Muttersprache eröffnen will, der schlage in einer guten deutschen Sprachlehre den Abschnitt über die Mehrzahlen mit $Seite 107$ verschiedenen Bedeutungen auf. Die Kenntnis der geläufigsten Doppelformen mit Doppelsinn wird hier vorausgesetzt, also nur eine Auslese der oft zweifelhaften gegeben. Von Bursch lautet heute die Mehrzahl Burschen; zu Goethes Zeit Bursche, bei ihm selbst: ,Wie sich die platten Bursche freuen' , Bursche darf auch heute nicht als fehlerhaft gelten. Ding — Dinge; aber ,die lustigen Dinger' (Mädchen) ist am rechten Ort nicht falsch,. Den Unterschied von Gesichte und Gesichter kennt jeder Gebildete, der sich des Verses im Faust erinnert: ,Daß diese Fülle der Gesichte Der trockne Schleicher stören muß.' Auch zwischen die Lumpe und die Lumpen wird wohl kaum geschwankt; Goethes Wort ist bekannt: ,Nur die Lumpe sind bescheiden.' In neuster Zeit beginnt die Unterscheidung zu verschwinden. Nicht selten hört man fehlerhaftes Lichter, wo es Lichte heißen muß. Am Weihnachtsbaum brennen Lichte (Kerzen); aus der Ferne schimmern Lichter (Licht- oder Flammenschein); ,Und Gott machte zwei große Lichter' (Himmelslichter). Sonne, Mond und Sterne sind Lichter, nicht Lichte. Einer der Sprachmeisterer befiehlt: nur Rohre ist richtig. Das ist falsch, denn der übereinstimmende Sprachgebrauch unterscheidet das Rohr und die Röhre, bildet davon die Mehrzahlen: die Rohre, die Röhren, und unterscheidet: die Kanonenrohre, die Ofenröhren, die Entwässerungsröhren, die Lokomotivrohre. Fernrohre und Fernröhre sind gleichwertig. Von Sau gibt es Säue (zahme) und Sauen (wilde). Der Unterschied zwischen Worte und Wörter hat sich jetzt klar herausgestellt. ,In Dichterworten spielen nicht immer die Hauptwörter die Hauptrolle. — In einem Wörterbuch stehen Wörter. — Der Worte sind genug gewechselt. — Hast du Worte?!' Also: Worte sind gehaltvolle zusammenhängende Äußerungen, Wörter sind Wortbilder. Daher besser Schlagworte, denn sie sind immerhin sinnvoll; aber Fremdwörter, denn sie sind Lautbilder wie jedes andre Einzelwort. Zum Zählen von Drahtungen haben Worte und Wörter ziemlich die gleiche Berechtigung. Die von einem Sprachknebler für gemein erklärte Mehrzahl Gehälter (vgl. S. 100) ist nicht gemein, sondern heute $Seite 108$ bester, ja fast einziger Sprachgebrauch. Geschmäcker wurde früher fast nur halbverächtlich gebraucht, ist aber mit der Zeit eine ganz brauchbare Mehrzahl von Geschmack geworden, kaum schlechter als Geschmäcke. Auf die Mannigfaltigkeit von Mehrzahlformen wie Männer, Mannen, alle Mann sei kurz hingewiesen. Pfennig bleibt in Preisangaben besser ohne Beugung: 5 Pfennig; sonst: ,die Pfennige (Pfennigstücke) werden selten' . Mückenseiherei sind Fragen wie die oft aufgeworfene: Wie heißt die Einzahl von Die Herren Mitglieder? Ist diese Ausdrucksform an sich gut — und wer bezweifelt das, da sie in ganz Deutschland allgemeiner guter Sprachgebrauch ist? —, so ist sie es auch ohne das Vorkommen einer Einzahl. Als ob jemand beim Gebrauch einer berechtigten Mehrzahlform sich erst überzeugen müsse, daß es auch eine entsprechende Einzahl gebe. Welch eine Auffassung von der Sprache und den Sprechenden! ,Allerlächerlichst' schimpft der Obersprachbüttel die gäng und gäbe, in allen Volksvertretungen und Vereinen mit Recht für unanstößig gehaltene Formel ,die Herren Mitglieder' , wie er denn auch alle Einzahlen mit ,Herr' eine ,Geschmacklosigkeit' nennt: man dürfe nicht sagen: der Herr Reichskanzler, der Herr Direktor, der Herr Lehrer. Also auch nicht der Herr General? Und von solchen Sprachmeisterern hat sich Jahrzehnte, Jahrhunderte hindurch ein großes Bildungsvolk furchtsam gängeln lassen, statt sich dem einzig zuverlässigen Sprachlehrer, dem Sprachgebrauch seiner Besten, anzuvertrauen! |
Zweifelsfall | |
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Beispiel |
Pfennig, Pfennige, Pfennigstücke, Herren Mitglieder, Herr Reichskanzler, Herr Direktor, Herr Lehrer, Herr General |
Bezugsinstanz | Sprache der Vereine, Sprache der Politik, Sprachverlauf |
Bewertung |
Mückenseiherei, an sich gut, allerlächerlichst (Obersprachbüttel), unanstößig, Geschmacklosigkeit (Obersprachbüttel) |
Intertextueller Bezug |
Zweifelsfall | |
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Beispiel |
Bursch, Burschen, Bursche, Ding, Dinge, Dinger, Gesichte, Gesichte, Lumpe, Lumpen, Lichter, Lichte, Rohre, Rohr, Röhre, Röhren, Fernrohre, Fernröhre, Säue, Sauen, Worte, Wörter, Sau, Hauptwörter, Wörterbuch, Schlagworte, Fremdwörter, Gehälter, Geschmäcker, Männer, Mannen, alle Mann, Pfennig, Pfennige, Pfennigstücke, Herren Mitglieder, Herr Reichskanzler, Herr Direktor, Herr Lehrer, Herr General |
Bezugsinstanz | alt, Goethe - Johann Wolfgang, Gebildete, gegenwärtig, neu, gegenwärtig, Sprachverlauf, Sprachgelehrsamkeit, Sprachgelehrsamkeit, Schreiber schlechten Stils, Sprache der Vereine, Sprache der Politik, 19. Jahrhundert, 18. Jahrhundert |
Bewertung |
unanstößig, bekannt, berechtigt, besser, brauchbar, Mückenseiherei, an sich gut, allerlächerlichst (Obersprachbüttel), Geschmacklosigkeit (Obersprachbüttel), einzig, falsch, fehlerhaft, Frequenz/nicht selten, gemein (Sprachnebler), gleiche Berechtigung, gleichwertig, gut, kaum schlechter, muss heißen, nicht falsch, nicht fehlerhaft, nicht gemein, richtig (Sprachmeisterer), sinnvoll, zweifelhaft |
Intertextueller Bezug |