Das Zeitwort 1. Beugung
Buch | Engel (1922): Gutes Deutsch. Ein Führer durch Falsch und Richtig. |
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Seitenzahlen | 195 - 197 |
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Unsicherheit |
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In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle
Behandelter Zweifelfall: | |
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Genannte Bezugsinstanzen: | Schreiber guten Stils, 18. Jahrhundert, Gegenwärtig, Alt, Literatursprache, Gehobene Sprache |
Text |
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Eine vollständige Formenlehre des Zeitwortes kann und soll hier nicht gegeben werden; dazu ist eine Sprachlehre notwendig, deren Besitz und Gebrauch vorausgesetzt werden. Dutzende von Zeitwörtern haben schwankende Beugung, worüber die Sprachlehre Auskunft gibt; hier wird nur versucht, festzustellen, für welche Beugeformen sich der heutige gute Gebrauch entschieden hat oder zu entscheiden beginnt. Nicht mein oder irgendeines Einzelnen Geschmack, sondern nur der einer deutlich erkennbaren überwiegenden Mehrheit der Gebildeten gibt den Ausschlag. Die beiden allbekannten Hauptarten der Zeitwortbeugung heißen seit Jakob Grimm sinnvoll die starke und die schwache, und diese Bezeichnungen werden hier aus Zweckmäßigkeitsgründen beibehalten. Der sprachlich ungelehrte Leser präge sich als deutlichste Unterscheidungsmerkmale ein: die Erzählform der schwachen Beugung lautet auf ..te (ich liebe, ich liebte), die der starken wird durch innern Ablaut gebildet: ich komme, ich kam. Die zweite Mittelform lautet für die schwache Beugung auf ..t (geliebt), für die starke auf ..en (gekommen), wozu, wie für die Erzählform, in den meisten Fällen der Ablaut kommt: ich leide, gelitten; ich sende, gesandt; ich liege, gelegen. Man könnte also die starke Beugung die Ablauts-, die schwache die t-Beugung nennen. Die Zahl der schwachgebeugten Zeitwörter überwiegt jetzt die der starken so sehr, daß die Meinung entstehen konnte, die schwachen Zeitwörter seien die regelmäßigen, die starken die Ausnahmen, wie ja die Einteilung für die fremden Sprachen allgemein lautet. Im ältern Deutsch war das Zahlenverhältnis umgekehrt: die schwachen Zeitwörter bildeten die, zwar nicht vereinzelten, aber immerhin wesentlich seltneren Ausnahmen, so daß schon aus der Verschiebung dieses Ver- $Seite 196$ hältnisses sich die unleugbare Tatsache ergibt: der Entwickwicklungsweg der Zeitwortbeugung geht heute auf die stete Vermehrung der regelmäßigen t-Formen, auf die Minderung der unregelmäßigen Ablautungen. Der Ausnahmen von dieser Richtung sind wenig; wir werden einige wichtige weiterhin zu betrachten haben. Als bekanntestes Beispiel sei schon hier genannt das vielumstrittene ich frage, du fragst, ich frug gegenüber dem ältern und noch heute für sprachrichtiger erklärten ich frage, du fragst, ich fragte. Nicht umstritten ist heutiges ich preise, ich pries, gepriesen gegenüber dem ursprünglich schwachen ich preise, ich preisete, gepreist, was sich in gelobpreist erhalten hat. So groß war schon im 18. Jahrhundert das Übergewicht der schwachen Beugung über die starke, daß die damaligen Sprachmeister, die ja grundsätzlich nicht den herrschenden Gebrauch bei den Besten, sondern nur ihre eigne, angeblich wissenschaftliche, Meinung gelten ließen, auf den Gedanken verfallen konnten, man müsse die Regelmäßigkeit möglichst vermehren, denn sie sei gleichbedeutend mit Richtigkeit; die Unregelmäßigkeit sei Unart und Unrichtigkeit; diese müsse ausgemerzt werden, und dazu seien die Sprachmeister berufen, nicht etwa die großen Schriftsteller. So dachte Gottsched, so dachte Adelung. Ihre Selbstherrlichkeit war so unerschütterlich, daß das Beispiel aller andern Sprachen mit regelmäßigen und unregelmäßigen Zeitwörtern sie nicht irre machte. Das Versinken mancher starker Beugung ist auf ihre Lehre und Ausübung zurückzuführen. Im allgemeinen gilt noch heute: die starken Beugeformen werden wirklich als die stärkeren, gewichtigeren, wirksameren empfunden, daher von den Dichtern und den Schreibern des hohen Stils überall da bevorzugt, wo sie noch nicht gänzlich veraltet sind. Ja man erkennt überhaupt den sorgsam wählenden, den sprachliebenden Schriftsteller, den Feind der Flachheit und Abgedroschenheit mit daran, daß er in jedem Zweifelfalle die starke ältere Form bevorzugt, wo sie noch natürlich klingt, nicht den Eindruck des Gesuchten, des absichtlich Altertümelnden macht. Sich dem Entwicklungsgange der Sprache in der Zeitwortbeugung starr entgegenzustemmen, ist ebenso verkehrt und hoffnungslos wie auf jedem andern Gebiet unsrer Sprache. Wohl aber hat der nachdenkliche deutsche Schreiber, der in seiner erlauchten Muttersprache nicht ein bloßes Ver- $Seite 197$ ständigungs-, sondern zugleich ein edles Kunstmittel sieht, Recht und Pflicht, an seinem Teil, ohne bevormundende Aufdringlichkeit, jede gute kraftvolle alte Zeitform in ihrem Bestande zu stützen, wo es irgend angeht, nicht weil jene Form die ältere ist, sondern weil sie dem ganzen Ausdruck mehr Saft und Mark verleiht. Man erprobe selber die Steigerung des Stils in Sätzen mit gehobenem Inhalt an den Doppelformen: glimmte, glomm; klimmte, klomm; webte, wob; schallte, scholl; triefte, troff; gerächt, gerochen; schnaubte, schnob; haute, hieb. |
Zweifelsfall | |
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Beispiel |
liebe, liebte, geliebt, komme, kam, gekommen, gelitten, sende, gesandt, liege, gelegen, frage, frägst, frug, fragst, fragte, preise, pries, gepriesen, preisete, gepreist, gelobpreist, glimmte, glomm, klimmte, klomm, webte, wob, schallte, scholl, triefte, troff, gerächt, gerochen, schnaubte, schnob, haute, hieb |
Bezugsinstanz | 18. Jahrhundert, alt, alt, Literatursprache, gegenwärtig, gegenwärtig, gehobene Sprache, Schreiber guten Stils |
Bewertung |
Frequenz/Ausnahme, gut, hoffnungslos, kraftvoll, nicht umstritten, Richtigkeit, sprachrichtiger, Unart, Unrichtigkeit, verkehrt, vielumstritten |
Intertextueller Bezug | Gottsched, Adelung |