Wortschatz und Wortform *4
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Buch | Engel (1922): Gutes Deutsch. Ein Führer durch Falsch und Richtig. |
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Seitenzahlen | 56 - 58 |
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Unsicherheit |
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In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle
Text |
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Das Leben der lebenden Sprachen steht niemals still; das des Deutschen ist das am reichsten und schnellsten quellende von allen. Das Sprachleben ist schöpferisch, darum ist es dem Sprachzuchtmeister verhaßt, und er verbietet der Sprache, Neues zu schaffen. Überall, wo wir die Büttel über deutsches Sprachneuland hören, sind es nörgelnde oder schimpfende Verwerfungen, und immer, gleichviel ob Gottsched oder Adelung $Seite 57$ oder Wustmann, mit denselben hinfälligen Gründen. Es ist unerfreulich, sich in einem Buche wie diesem nicht unmittelbar mit den Spracherscheinungen selbst abzugeben, sondern mehr als einmal mit früheren Darstellern zu streiten; es handelt sich aber hier um die Kernfrage des Sprachlebens: um das Recht zu steter Neubildung, und da muß selbst mit den einst schädlich gewesenen und bis heute schädlich fortwirkenden Toten gestritten werden. Um so mehr, als der in neuster Zeit am stärksten von Wustmann vertretene Geist des Niederhaltens der Sprachneuschöpfung die Schreiberwelt ein Menschenalter hindurch verderblich beeinflußt hat, noch heute nicht überwunden ist, und als zu befürchten steht: Der Boden zeugt sie wieder, wie er sie von je gezeugt, nämlich arme, einzelne Menschen, die sich erdreisten, die Sprache eines ganzen Volkes nach ihrer Geschmacks- und Ungeschmackslaune in die spanischen Stiefeln einer engen Regelmäßigkeit einzuschnüren. Der geistige Vorgang ist bei all solchen Sprachzuchtmeistern derselbe. Gottsched verwirft ,das Große, das Schöne' , ,denn wir haben schon die Größe, die Schönheit'; Wustmann bemäkelt ,das Wissen, das Können' als ,richtige Modenarrheit... es kann einem ganz schlimm und übel dabei werden', denn ,Wörter wie Kenntnis, Fähigkeit scheinen ganz vergessen zu sein'. Adelung schilt über ,liebevoll, entgegnen, da wir bereits liebreich, erwidern haben', und ,beginnen' ist töricht, da wir längst ,anfangen' haben. Wustmann nennt ,darstellen schauderhaft gespreizt', denn wir haben ja ,bilden' . ,Einsetzen' ist ihm ,eins der schlagendsten Beispiele der Gedankenlosigkeit', denn wir haben ja ,anfangen und beginnen' . Aber wozu dann noch ,beginnen' , da wir ja ,anfangen' haben? So rasaunt Wustmann auf mehr als einem halben Hundert Seiten gegen ,neue Wörter', die er allesamt für abscheuliche Modwörter erklärt, z. B. gegen: Gepflogenheit (,ist nicht Brauch so ziemlich dasselbe?'). Die Sprache, d. h. die Masse der Sprechenden, auch der Gebildetsten, hält beides nicht für dasslbe. Er eifert gegen Übersee (ein bequemes Kurzwort), Vorredner (ein unentbehrliches, bequemes Wort, von den besten, den gewichtigsten Rednern, von Moltke, Bismarck bedenkenlos angewandt), Ausreise (eines Weltmeerschiffes), Griffelkunst (treffenden Ersatz der lächerlichen Graphik), Begleiterscheinung, Werdegang, Straftat, Lebewesen (,verunglückte Bildungen'), innerpolitisch, parteilos (wir haben ja $Seite 58$ ,unparteiisch' ), lateinlos, fraglos, rückständig (Wustmann fordert einzig ,zurückgeblieben, veraltet' ), anpassungsfähig (nach Wustmann nur fähig zum Anpassen von Kleidern oder Schuhen, also ,für einen gewandten Ladenjüngling'), tagein tagaus (,ganz töricht'), lochen, belichten, Heizkörper, Beleuchtungskörper (Wustmann kennt nur Ofen und Leuchter), Darbietung, Ehrung (für Wustmann gibt es nur Ehrenbezeugung oder Auszeichnung), bedeutsam, belangreich, belanglos (,obgleich niemand weiß, was Belang ist'), eigenartig, einwandfrei, erheblich, sangesfroh und farbenfroh, glatt (man dürfte also nicht sagen: Der Verkehr wickelte sich glatt ab), minderwertig, offensichtlich, selbstlos, tunlich, verläßlich, abstürzen, sich anfreunden, ausgestalten, entgegennehmen, erhellen (wir haben ja ,hervorgehen, sich ergeben' ), sich erübrigen, erzielen (Wustmann höhnt: ,feiner Ersatz für erreichen' ), gestatten, Rechnung tragen, einer Frage nähertreten, zu einer Beratung zusammentreten, vorbestraft, voraufgehen (,Zier- und Spreizwort für vorhergehen und vorausgehen' ), in die Wege leiten (,Modephrase eigentlich für gar nichts'), werten und bewerten, zerfallen in ... (man dürfe nicht sagen: Das deutsche Heer zerfällt in 20 Korps; alle Welt sagt so, aber alle Welt soll nicht so sagen — verlangt der eine Großklassiker des Deutschen, Gustav Wustmann); in erster Linie, nahezu, naturgemäß, rund (bei abgerundeten Zahlen), vielmehr (wir haben ja ,sondern' ), weitaus, Gesichtspunkt, klarlegen. Alle diese und viele andre Ausdrücke müssen auf Wustmanns Geheiß aus der deutschen Sprache verschwinden. |
Zweifelsfall | |
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Beispiel | |
Bezugsinstanz | Gebildete, Gottsched - Johann Christoph, Adelung - Johann Christoph, Wustmann - Gustav, Moltke - Helmuth Karl Bernhard von, Bismarck - Otto von |
Bewertung |
unerfreulich, schädlich fortwirkend |
Intertextueller Bezug | Gottsched, Adelung, Wustmann |