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Buch | Matthias (1929): Sprachleben und Sprachschäden. Ein Führer durch die Schwankungen und Schwierigkeiten des deutschen Sprachgebrauchs. |
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Seitenzahlen | 442 - 444 |
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Unsicherheit |
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In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle
Behandelter Zweifelfall: | |
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Genannte Bezugsinstanzen: | Volk |
Text |
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Solch ein abgeblaßtes Hauptwort ist Anschauung (auch Weltanschauung), nicht so merkwürdigerweise, als man grade bei diesem Worte wohl meint; denn unter dem Rufe nach Anschauung und unter der Herrschaft des Anschauungsunterrichts hat man gar vieler Orten übersehen, daß Ansicht noch nicht Einsicht ist, und hat alles anschauen zu können vermeint, was durchdacht, verstanden und gefühlt sein will. Statt zur Kirchenpolitik eine feste Stellung, in der Landwirtschaft Erfahrung oder Verständnis, in der Moral Grundsätze, in der Grammatik Kenntnisse, in der Kunst ein Urteil zu haben, hat man denn jetzt von alle dem $Seite 443$ und viel anderem — bloß eine Anschauung; so recht hübsch äußerlich, wie einer, der nur von außen in einen Laden hineinguckt oder, wenn's hochkommt, im Wirts- oder Schauspielhause einer — chemisch-physikalischen Abendunterhaltung beigewohnt hat. Kein Wunder, daß da auch hunderttausenden, die über das Ganze der Welt und das Welträtsel kaum nachgedacht haben, eine Weltanschauung zugeschrieben wird. So hängt schließlich, die Sprachgestaltung freilich entschuldigend, aber die Sprachbetrachtung zu desto ernsterer Warnung vor Unsachlichkeit, vor den schlimmsten innerlichsten Schädigungen drängend, die Vorliebe für jenen Ausdruck mit der gesamten Kulturentwicklung zusammen; ganz ähnlich wie schon die Vorherrschaft gewisser Künste und Stände, der Mal- und Tonkunst und des Militärs, uns auch eine stattliche Reihe von Ausdrücken derselben beschert hat, die wenigstens in der jetzigen Aufdringlichkeit unschön, oft sogar widersinnig wirken. Wer fühlte nicht ohne weiteres jene Einflüsse wirksam, wenn er immer hört und liest von Stimmungen, Stimmungsbildern und stimmungsvoll? Freilich können darin wieder Launen, was zu stark, und weihevoll, das zu hehr klingt, recht hübsch mit verschwimmen. Immer ist man heute in der Lage, wo oft besser stünde imstande, weil soviel von der europäischen Lage zu hören ist; Politiker stehn auf der Zinne (!) der Partei und andere wieder halten deren Fahne hoch, obwohl sie doch gar keine hat. In der ersten Linie (statt vor allem) ist ein Vortrag klar und verständlich gewesen; und in allen möglichen Dingen wird vorgegangen und eingegriffen, gerade wie im Kampfe. Nach anderm Muster wird wieder alles grau in grau gemalt oder die Bildfläche angegeben, auf der alles erscheint und von der alles verschwindet, auch wo von einem Bilde oder Bilden keine Rede sein kann und nur eintreten, auftauchen, abtreten gesagt werden sollte. Der Art unserer Zeit, die viel verlangt und jedes Verlangen sogleich erfüllt sehen möchte, die in allem nach dem Zwecke, nach dem Ruhen fragt, entspricht es auch, daß das Wort Zweck die Bedeutung von Erfolg, Nutzen und, weil man für diesen noch Sinn hat, auch von Sinn annimmt: kalte Abreibungen haben bei solcher Konstitution keinen Zweck (statt sind unnütz) ... Laß dies, das hat keinen Zweck. Was in dieser Form dem Norddeutschen schon Gewohnheit geworden ist, belacht er freilich noch, wenn er im Süddeutschen auf demselben Wege auch das Verb bezwecken bis in die Bedeutung von erreichen vorgerückt findet: Es wurden 108 Reden gehalten, um die Vereinigung des Südens mit dem Norden herbeizuführen; leider haben alle nichts bezweckt (statt gefruchtet). Dabei haben alle diese Bedeutungswandlungen, die zuletzt beispielsweise angedeutet wurden, noch irgend einen vernünftigen Ausgangspunkt. Noch schlimmer, wenn auch dieser fehlt. So heißt es nur, sich törichterweise freiwillig in französische Armut begeben, wenn die Personenbezeichnung Sohn und Tochter, die nur von dem Verhältnisse der Kinder zu den Eltern gebraucht werden dürfen, den Rhein hinab auch ohne solche Beziehung verwendet werden, also wo Knabe oder Junge und Mädchen am Platze ist, so daß dort schon Damen- und Töchterstiefel angepriesen werden. Sollte man es aber glauben, daß jemand selbst das Gefühl dafür verliert, daß ein Paar zwei gleichartige zusammengehörige Wesen bezeichnet, und ein Drillingspärchen //1 Dagegen sollte es nicht beanstandet werden, wenn ebenso wie von einem Braut- $Fußnote auf nächster Seite fortgeführt$ oder Ehepaare, auch von einem Königs- und Kaiserpaare gesprochen wird, da man hinter diesen Ausdrücken so wenig zwei Kaiser oder zwei Könige zu suchen braucht wie man hinter Brautpaar zwei Bräute sucht. Weiter verdient freilich das Kronprinzliche, Großherzogliche, Freiherrliche, Fürstliche Paar den Vorzug vor Kronprinzenpaar, Grafenpaar u. dgl., Bildungen, denen die Sprache ausweicht, weil der Plural des Bestimmungswortes wirklich auf eine Mehrheit von Kronprinzen, Grafen, Freiherren hindeuten könnte.// anzeigen konnte? oder, um von der Wiege zur Bahre $Seite 444$ zu kommen, ein anderer den Begriff von Leichnam so wenig empfindet, daß er von der Auffindung eines Leichnams meldet, der sich selbst getötet hat? Selbst der feine, aber feste Unterschied zwischen Sprache, der angebornen oder angelernten Gabe oder der durch Stand oder Stellung gebotenen Art sich zu äußern (Muttersprache, Sprache der Gelehrten, Diplomaten), und der Rede und dem Gespräche, der durch Zufall oder bestimmte Veranlassung gebotenen Anwendung jener Gabe auf irgend einen sachlichen Inhalt, droht verwischt zu werden; hört man doch schon: davon ist nicht mehr die Sprache, die Sprache kam darauf! Daß für die Fremdwörter und ihre Grundbedeutung dem Schreiber, auch dem gebildeten, erst recht das Sprachgefühl fehlt, darauf soll nur andeutungsweise mit einem Beispiele hingewiesen werden: unter der Wendung der Tgl. R.: große Marschstationen vollführen sollte man einmal verstehn: ohne Unterbrechung marschieren, und da heißt Station der Halt! Unter den falsch gebrauchten Eigenschaftswörtern sei hier zunächst gelungen genannt; das wird nämlich nicht mehr bloß vom Standpunkt derer gesetzt, die für das Gelingen oder Mißlingen einer Sache verantwortlich und darum besorgt sind, sondern überhaupt für hübsch, unterhaltend, vor allem in ironischem Sinne von etwas, was durch lächerliche Wirkung erheitert. Da sind Stunden bei einem Lehrer und dieser selbst gelungen, wenn nur beide lustig sind, und bei einem Feste geht es gelungen her! — Zwingen und nötigen möchte sich heut auch niemand gern lassen; deshalb redet man auch nicht mehr von nötigen, notwendigen, erforderlichen Maßregeln — halt, Maßnahmen! — Schritten, Zugeständnissen, sondern hübsch verschwommen von angezeigten oder gegebenen und gar zweideutig gebotenen und findet etwas gegeben, angezeigt und geboten. Auch die beliebte Wendung: er fand ein unzeitiges Ende bedeutet, dem Worte Unzeit, d. h. schlechte, unpassende Zeit, entsprechend, nur er starb zur Unzeit, und das kann unter Umständen auch im hohen Alter geschehen; was sie bedeuden soll, drücken die einfachsten Worte ein frühes Ende am natürlichsten und klarsten aus. Der Süddeutsche muß sich besonders noch hüten, wirklich und gegenwärtig (= jetzt) sowie gegenwärtig und vorliegend zu verwechseln; denn bei ihm ist oft zu hören: Es ist eine Pracht, wirklich (soll bedeuten jetzt, gegenwärtig) in Gottes freier Natur zu wandeln, und ebenso bei gegenwärtiger Untersuchung statt bei dieser, bei vorliegender Untersuchung. |
Zweifelsfall | |
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Beispiel |
Anschauung, Stimmungen, Zweck, Erfolg, Nutzen, Sinn, bezwecken, ein Paar, Sprache, Rede, gelungen, wirlkich, gegenwärtig, vorliegend |
Bezugsinstanz | Volk, Volk |
Bewertung |
Der Süddeutsche muss sich besonders noch hüten, droht verwischt zu werden, hübsch äußerlich |
Intertextueller Bezug |