Äpfelwein oder Apfelwein?
Buch | Wustmann (1903): Allerhand Sprachdummheiten. Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen |
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Seitenzahlen | 72 - 74 |
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Unsicherheit |
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In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle
Behandelter Zweifelfall: | |
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Genannte Bezugsinstanzen: | Leipzig, Gegenwärtig, Ursprünglich, 19. Jahrhundert, Alt, Neu, Mundart, Sprachverlauf, Gesprochene Sprache, Schriftsprache, Wien, Sprache der Kunst |
Text |
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Recht unnötigen Aufruhr und Streit erregt bisweilen die Frage, ob in dem Bestimmungswort einer Zusammensetzung die Einzahl oder die Mehrzahl am Platze sei. Einen Braten, der nur von einem Rind geschnitten ist, nennt man in Leipzig Rinderbraten, eine Schüssel Mus dagegen, die aus einem halben Schock Apfel bereitet ist, Apfelmus. Das ist doch sinnwidrig, heißt es, es kann doch nur das umgekehrte richtig sein! Nein, es ist beides richtig. Es kommt in solchen Zusammensetzungen weder auf die Einzahl noch auf die Mehrzahl an, sondern nur auf den Gattungsbegriff. Im Numerus herrscht völlige Freiheit; die eine Mundart verfährt so, die andre so,//* In Leipzig hält man sich ein Kindermädchen, auch wenn man nur ein Kind hat, in Wien eine Kindsmagd, auch wenn man sechs Kinder hat// und selbst innerhalb der guten Schriftsprache waltet hier scheinbar die seltsamste Laune und Willkür. Man sagt: Bruderkrieg, Freundeskreis, $Seite 73$ Jünglingsverein, (neuerdings auch Offizierskasino!) Ortsverzeichnis, Adreßbuch, Baumschule, Fischteich, Federbett, obwohl hier überall das Bestimmungswort unzweifelhaft eine Mehrzahl bedeutet; dagegen sagt man Kinderkopf (in der Malerei), Liedervers, Städtename, Gänsefeder, Eierschale, Lämmerschwänzchen, Hühnerei, obwohl ein Vers nur zu einem Liede, eine Schale nur zu einem Ei gehören kann. Wer näher zusieht, findet freilich auch hinter dieser scheinbaren Willkür gute Gründe. Baumschule, Bruderkrieg und Fischteich sind noch nach der ursprünglichsten Zusammensetzungsweise, die nach singularischer oder pluralischer Bedeutung des Bestimmungswortes nicht fragte, mit dem bloßen Stamme des ersten Wortes gebildet. Jünglingsverein und Ortsverzeichnis haben das -s, das eigentlich nur dem Genitiv männlicher und sächlicher Wörter zukommt, aber von da aus weiter gegriffen hat und zum Bindemittel schlechthin, selbst für pluralisch gemeinte Substantiva, geworden ist; auch Freundeskreis ist ein Absenker dieser Bildungsweise. Und ebenso natürlich erklärt sich die Gruppe mit scheinbar pluralischer Form und singularischer Bedeutung. In ihr handelt es sich nur um Neutra mit Umlaut und der Pluralendung er und um umgelautete Feminina. Aber sowohl der Umlaut der Feminina wie das er und der Umlaut der Neutra gehörte in alter Zeit nicht nur dem Plural, sondern dem Stamme dieser Wörter an, und daß es sich bei den Zusammensetzungen mit ihnen um nichts weiter als den Stamm handelt, können wir bei einigem guten Willen noch jetzt nachfühlen. Kein Mensch denkt bei dem Worte Gänseblume an mehrere Gänse, sondern jeder nur an den Begriff Gans, so gut wie er bei Rinderbrust nicht mehrere Rinder vor Augen hat. Und ist es schon einmal jemand eingefallen, sich unter einem Bräutigam einen Mann (homo, d. i. althochdeutsch gamo) mehrerer Bräute vorzustellen? Trotz alledem ist natürlich Äpfelwein neben Apfelwein nicht zu verurteilen. Der wirklich pluralischen Zusammensetzungen und der pluralisch gefühlten gibt es $Seite 74$ zu viel, als daß ihnen ein Eingreifen in dieses Gebiet der Zusammensetzungen mit Gattungsbegriffen verwehrt werden könnte. Schwankt man doch auch in Zusammensetzungen wie Anwaltstag, Juristentag, Ärztetag, Bischofkonferenz, Rektorenkonferenz, Gastwirtverein, Architektenverein u. a. Wenn etwas hier bestimmend wäre, so könnte es nur der Rhythmus sein. Höchst ärgerlich aber ist es, wenn man, nachdem man vierzig Jahre lang von Kollegienheften hat sprechen hören, plötzlich an dem Ladenfenster eines kleinen Schreibwarenkrämers Kolleghefte angepriesen sieht. Man möchte ihm gleich einen Stein ins Fenster werfen! |
Zweifelsfall | |
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Beispiel | |
Bezugsinstanz | gegenwärtig, alt, Sprache der Kunst, Leipzig, Wien, Mundart, neu, Schriftsprache, ursprünglich, Sprachverlauf, 19. Jahrhundert, gesprochene Sprache |
Bewertung |
recht unnötig, sinnwidrig, richtig, seltsamste Laune und Willkür, nicht zu verurteilen, höchst ärgerlich, Man möchte ihm gleich einen Stein ins Fenster werfen |
Intertextueller Bezug |