Der Konjunktiv der Nichtwirklichkeit

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Buch Wustmann (1903): Allerhand Sprachdummheiten. Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen
Seitenzahlen 152 - 155

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Unsicherheit

In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle

Behandelter Zweifelfall:

Konjunktiv oder Indikativ

Genannte Bezugsinstanzen: Mundart, Gesprochene Sprache, Schriftsprache, Gehobene Sprache, Umgangssprache
Text

Eine zweite, ebenso unüberschreitbare Grenze für die Neigung, überall den Konjunktiv der Gegenwart vorzuziehen, liegt in einer gewissen Bedeutung des Konjunktivs der Vergangenheit. Der Indikativ stellt etwas als wirklich hin, der Konjunktiv nur als gedacht, gleichviel, ob diesem Gedachten die Wirklichkeit entspricht oder nicht. Es gibt aber noch einen dritten Fall. Es kann etwas als gedacht hingestellt, aber zugleich aufs bestimmteste ausgedrückt werden, daß diesem Gedachten die Wirklichkeit nicht entspreche. Diese Aufgabe kann aber nur der Konjunktiv der Vergangenheit erfüllen. Das bekanntere Beispiel dafür und eins, das niemand falsch bildet, sind die sogenannten irrealen Konditionalsätze oder Bedingungssätze der Nichtwirklichkeit. Jedermann sagt und schreibt richtig: wenn ich Geld hätte, käme ich, oder: wenn ich Geld gehabt hätte, wäre ich gekommen. Der Sinn ist in dem ersten Falle: ich habe aber keins, im zweiten: ich hatte aber keins, mit andern Worten: sowohl das Geldhaben, als die Folge davon, das Kommen, wird in beiden Fällen als nichtwirklich, als „irreal" hingestellt. Die Sprache verfährt dabei sehr ausdrucksvoll. Sie rückt den Gedanken nicht bloß aus dem Bereiche der Wirklichkeit (den der Indikativ ausdrücken würde), sondern versetzt ihn außerdem auch noch in eine größere Zeitferne: eine irreale Bedingung in der Gegenwart wird durch das Imperfekt (wenn ich hätte), eine irreale Bedingung in der Vergangenheit $Seite 153$ durch das Plusquamperfekt (wenn ich gehabt hätte) ausgedrückt. Ein Schwanken in dem Tempus des Konjunktivs ist hier völlig ausgeschlossen; Imperfekt und Plusquamperfekt sind in solchen Sätzen unerläßlich.//* Der Volksmund liebt es, eine irreale Bedingung in der Vergangenheit durch den Indikativ des Imperfekts auszudrücken: wenn ich Geld hatte, kam ich. Das klingt aber der Angabe einer wiederholten Handlung in der Wirklichkeit jedesmal, wenn ich Geld hatte, kam ich so ähnlich, daß man es in der guten Schriftsprache besser vermeidet.//

Solche Sätze bildet ja nun jeder richtig, wenn er auch vielleicht nie darüber nachgedacht hat, warum er sie so bildet. Die Bedingungssätze sind aber keineswegs die einzigen Nebensätze, die irrealen Sinn haben können. Etwas sehr gewöhnliches sind auch Relativsätze, Objektsätze, Kausalsätze, Folgesätze mit irrealem Sinn. In allen diesen Sätzen verfährt die lebendige Sprache genau so, wie in den irrealen Bedingungssätzen, jedermann bildet auch sie in der Umgangssprache ganz richtig, ohne sich einen Augenblick zu besinnen, und sagt: ich kenne keinen Menschen, den ich lieber hätte als dich — ich weiß nichts davon, daß er verreist gewesen wäre — ich will nicht sagen, daß ich keine Lust gehabt hätte//** Auch oft verkürzt, ohne Hauptsatz: daß ich nicht wüßte — nicht daß es dem Vater an trefflichen Eigenschaften gefehlt hätte.// — er ist zu dieser Arbeit nicht zu brauchen, nicht etwa weil er zu dumm dazu wäre — ich bin nicht so ungeduldig, daß ich es nicht erwarten könnte — statt daß du zu Hause bliebest und dich pflegtest, läufst du in Wind und Wetter herum usw. Aber der Papiermensch getraut sich solche Sätze nicht zu schreiben, er stutzt, zweifelt, wird irre, schreibt schließlich — den Indikativ, und so laufen einem denn täglich auch solche Sätze über den Weg, wie: ich kenne keine zweite Fachzeitschrift auf diesem Gebiete, die so allen Ansprüchen entgegenkommt (käme!) — die Geschichte kennt keine Musiker, die auf rein autodidaktischem Wege zur Bedeutung gelangt sind (wären!) — es dürfte heute kein Physiker zu ermitteln sein, der an die Möglichkeit eines absolut leeren Raumes glaubt (glaubte!) — bei Shakespeare selbst findet sich kein Wort, das auf eine solche Anschauung seines Helden $Seite 154$ deutet (deutete!) — es gibt kein Stück Shakespeares, worin die Charaktere klarer entwickelt sind (wären!) — es fehlte bisher an einem Buche, das dem Laien verständlich war (gewesen wäre!) und zugleich auf der Höhe der Wissenschaft stand (gestanden hätte!) — es gibt keinen, der die Entwicklung der politischen Verhältnisse kennt (kennte!), keinen, der sagen kann (könnte!): morgen wird es so sein — nie hat er etwas getan, was mit seiner Untertanenpflicht in Widerspruch stand (gestanden hätte!) — wir haben seit langen Jahren kein Abgeordnetenhaus gehabt, worin diese Partei so stark vertreten war (gewesen wäre!) — ich gebe diese Auslassung wörtlich wieder, nicht weil ich sie für sehr bedeutend halte (hielte!), sondern weil usw. — es ist ganz undenkbar, daß die Armenier diese Gräueltaten hervorriefen (hervorgerufen hätten!) — wir hören nichts davon, daß die weniger betroffnen Gemeinden den notleidenden die Hand boten (geboten hätten!) — wie selten sind diese Kenntnisse ein so sichrer Besitz geworden, daß mit Freiheit darüber verfügt wird (würde!) — die Summe gewährt ihm keine genügende Unterstützung, daß er während seiner Studentenzeit sorgenfrei leben kann (könnte!) — die Sache ist damals beanstandet worden, ohne daß über den Grund aus den Akten etwas zu ersehen ist (wäre!) — ach, es war eine schöne Zeit, zu schön, als daß sie lange dauern konnte (hätte dauern können!) — zum Glück war ich noch zu klein, als daß mir der Inhalt des Buches großen Schaden zufügen konnte (hätte zufügen können!) — die Hauswirte lassen lieber die Wohnungen leer stehen, als daß sie sie billig vermieten (vermieteten!) — anstatt daß eine Beruhigung eintrat (eingetreten wäre!), bemächtigte sich vielmehr des ganzen Landes eine tiefe Aufregung.

In allen diesen Sätzen drückt der Nebensatz etwas Nichtwirkliches aus. Zu allen diesen Nebensätzen ist gleichsam im Geist ein irrealer Bedingungssatz zu ergänzen: nie hat er etwas getan, was mit seiner Untertanenpflicht in Widerspruch gestanden hätte (nämlich wenn er es getan hätte, was eben nicht der Fall $Seite 155$ war). Also müssen sie auch alle in den Modus der Nichtwirklichkeit treten. Es würde ganz unbegreiflich sein, wie jemand solche Nebensätze in den Indikativ setzen kann, wenn nicht, wie so oft, die leidige Halbwisserei dabei im Spiele wäre. Man ist nicht unwissend genug, den richtigen Konjunktiv aus der lebendigen Sprache unangezweifelt zu lassen, aber man ist auch nicht wissend, nicht unterrichtet genug, den Zweifel niederzuschlagen und das Richtige aufs Papier zu bringen.


Zweifelsfall

Konjunktiv oder Indikativ

Beispiel
Bezugsinstanz gehobene Sprache, gesprochene Sprache, Schriftsprache, Umgangssprache, Mundart
Bewertung

Das Richtige, falsch, Frequenz/jeder, Frequenz/jedermann sagt und schreibt, ganz unbegreiflich, leidige Halbwisserei dabei im Spiele, müssen, richtig, sehr gewöhnliches, unerläßlich

Intertextueller Bezug