Die fehlerhafte Zusammenziehung

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Buch Wustmann (1903): Allerhand Sprachdummheiten. Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen
Seitenzahlen 279 - 283

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Unsicherheit

In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle

Behandelter Zweifelfall:

Ellipsen in Satzreihen

Genannte Bezugsinstanzen: Schriftsprache
Behandelter Zweifelfall:

Ellipsen in koordinierten Phrasen

Genannte Bezugsinstanzen: Schriftsprache
Behandelter Zweifelfall:

Ellipsen bei der Reihung komplexer Wörter

Genannte Bezugsinstanzen: Schriftsprache
Text

Ein Fehler, der die mannigfachsten Spielarten zeigt, obwohl er im Grunde immer derselbe ist, entsteht durch jene äußerliche Auffassung der Sprache, die nicht nach Sinn und Bedeutung, sondern nur nach dem Lautbilde der Wörter fragt. Kehrt dasselbe Lautbild wieder, so glaubt es der Papiermensch das zweitemal ohne weiteres unterdrücken zu dürfen, obwohl es dieses zweitemal vielleicht einen ganz andern Sinn hat als das erstemal. Eine Abart dieses Fehlers ist schon früher besprochen worden: die Vernachlässigung des Kasuswechsels beim Relativpronomen (S. 129). Hierher gehört es aber auch, wenn man einen Fügewortsatz oder Fragesatz zugleich als Objekt und als Subjekt verwendet, z. B. daß der Verfasser ein Jurist ist, kann man mit Händen greifen, hält ihn jedoch nicht ab — ob das Wort schon früher in Gebrauch war, wagen wir nicht festzustellen, ist auch ohne Belang. Oder wenn man ein Zeitwort gleichzeitig als selbständiges Zeitwort (oder Kopula) und als Hilfszeitwort verwendet und schreibt: er hatte sich aus kleinen Verhältnissen emporgearbeitet und wirklich das Zeug zu einem tüchtigen Künstler — er war vor $Seite 280$ kurzem erst ins Dorf gezogen und ein kleiner, kugelrunder Mann//* Solche Zusammenziehungen stehen beinahe auf derselben Stufe wie die benannten scherzhaften Wortverbindungen: geo- und arithmetrisch - teils aus Frömmig-, teils zum Zeitvertreib - der heutige Tag wird mir ewig deut- und gegenwärtig bleiben.// — er wurde später sächsischer Minister und in den Freiherrnstand erhoben — oder gar: wenn ein Grenzstein verrückt oder unkenntlich geworden ist (anstatt: verrückt worden oder unkenntlich geworden) — glauben Sie nicht, daß eine Errungenschaft darin liegen würde, wenn Frauen medizinisch gebildet und praktizieren würden? (anstatt: gebildet würden und praktizierten). Ferner wenn man ein persönliches Fürwort zugleich als Dativ und als Akkusativ verwendet, z. B. sich stets betastend und die Hände reichend — die Gelegenheit, sich kennen zu lernen, bezw. (!) näher zu treten — kurz alle Fälle, wo ein Wort gleichzeitig in zwei verschiednen Auffassungen gebraucht wird, also auch z. B.: die Pferde stürzten so unglücklich, daß die Deichsel brach, das eine Pferd aber den Oberschenkel — er war darauf angewiesen, sein Leben, an das er große Ansprüche machte, durch erbitterten Kampf gegen die Konkurrenz zu gewinnen (wo Leben das einemal als Lebensweise, das andremal als Lebensunterhalt gemeint ist).

Eine der häufigsten, aber auch widerwärtigsten Spielarten dieses groben logischen Fehlers ist es, ein Femininum und einen Plural unter demselben Artikel, Fürwort oder Adjektivum zusammenzukoppeln (vgl. englisch: the life and times) und zu schreiben: die Höhe und Formen des Gitters — die Umrahmung und Seitenflügel des Altarbildes — die Metalle und Spektralanalyse — die Verbreitung und Ursachen der Lungenschwindsucht — die Stellung und Ansprüche des Zentrums — die Sicherung der Post und Transporte — die Analyse der Gestalten und Kunst Shakespeares — Handbuch der Staatswissenschaften und Politik — das Gebiet der Mathematik und Naturwissenschaften — die Angaben der Bevölkerungsdichtigkeit und Temperaturverhältnisse — seine $Seite 281$ Reue und Gewissensbisse — im Kreise seiner Gattin und Kinder — durch ihre Daten und Hingebung — eine Darstellung ihrer Schicksale und Bauart — die Bühne, die keine Dekoration und Kulissen kannte — die Gegner der deutschen Landwirtschaft und Getreidezölle — zur Erforschung vaterländischer Sprache und Altertümer.//* Vollends arg sind natürlich Zusammenziehungen wie: unsre Arbeit und Streben — gute Küche und Keller. Über solche Sudelei ist kein Wort zu verlieren; für sie gibt es auch keinen Schein von Entschuldigung.//

Aber auch da, wo Geschlecht und Numerus zweier Begriffe dieselben sind, ist es eine grobe Nachlässigkeit, sie unter einem Artikel unterzubringen und zu schreiben: die Zustimmung des Bundesrats und Reichskanzlers — der Direktor der Bürger- oder Bezirksschule — eine Sitzung des Bau-, Ökonomie- und Finanzausschusses — ein Ausflug nach dem Süßen und Salzigen See — das alte und neue Buchhändlerhaus — die katholische und evangelische Kirche — der Renaissance- und Barockstil — das sächsische und schlesische Gebirge — die religiöse und weltliche Poesie der Juden — die weiße und rote Rose — das Sol- und Seebad — der Wert der klassischen und modernen Sprachen — meiner innig geliebten Mutter und Großmutter gewidmet — die Knochen waren nicht die Überreste eines Frauen- und Kinderskeletts, sondern eines Ferkel- und Kaninchengerippes! Auch in diesen Fällen muß der Artikel unbedingt wiederholt werden; wird er nur einmal gesetzt, so erweckt das die Vorstellung, als ob sichs nur um einen Begriff handelte. Niemand kann erraten, daß der Bau-, Ökonomie- und Finanzausschuß drei verschiedne Ausschüsse sind. Der König von Preußen und Kaiser von Deutschland — das ist richtig, denn beides ist dieselbe Person: ebenso richtig kann sein: die Direktoren der Bezirks- oder Armenschulen, wenn Bezirksschule und Armenschule nur verschiedne Namen für dieselbe Schulgattung sind.

$Seite 282$ Die Nachlässigkeit wird um so störender, wenn durch das im Plural stehende Prädikat oder auf irgend eine andre Weise noch besonders deutlich fühlbar gemacht wird, daß es sich um mehrere Begriffe handelt, z. B.: der deutsche Handel war bedeutender als der englische und amerikanische zusammen — der Nominativ und Vokativ sind eigentlich keine Kasus — die erste und letzte Strophe zerfallen in zwei Hälften — der lyrische und epische Dichter bedürfen dieses Mittels nicht — 1830 starben der Bruder und Vater — westlich davon stehen die Thomas- und Matthäikirche — an der Nordseite befinden sich der Dresdner, Magdeburger und Thüringer Bahnhof — zwischen (!) dem 13. und 15. Grade südlicher Breite — der Unterschied zwischen (!) den staatlichen und kirchlichen Einrichtungen — wo ist die Grenze zwischen (!) der Wahrheit, die man mitteilen, und [der!], die man nicht mitteilen darf — die deutsche Umgangssprache schwankt zwischen dem Extrem barscher Kürze und bedientenhafter Redseligkeit. Wie kann etwas zwischen einem Grade liegen, zwischen einem Extrem schwanken?

Bei mehr als zwei Gliedern kann die sorgfältige Wiederholung des Artikels freilich etwas schleppendes bekommen, und wo mehr Reihe gebildet als gegenübergestellt wird, da schreibe man getrost: mit den Geruchs-, Geschmacks- und Gefühlsnerven, die Gewohnheiten des Fastens, Beichtens und Betens, ein Schatz des Wahren, Guten und Schönen. Wo aber unterschieden und gegenübergestellt wird, da muß auch der Artikel wiederholt werden. Darum steht auch auf dem Titelblatte dieses Buches: Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen, denn jeder dieser drei Begriffe bezeichnet eine ganz andre Art von Fällen. Manche glauben genug zu tun, wenn sie den Artikel bei einem Wechsel des Geschlechts wiederholen, und schreiben: die Gelübde der Armut, Keuschheit und des Gehorsams. Ganz irrig! Die Gleichmäßigkeit verlangt den Artikel bei jedem Gliede der Reihe.

$Seite 283$ Kein grammatischer, aber ein grober Denkfehler liegt vor in Verbindungen wie: Lager von Schneider- und Schuhartikeln — Fabrik von Bambus-, Luxus- und Rohrmöbeln. Der Schneider kann nicht den Schuhen, Bambusrohr nicht dem Luxus gegenübergestellt werden; Bambus und Rohr geben den Stoff an, Luxus den Zweck (oder die Zwecklosigkeit).

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Wustmann(1903) 279-283.pdf


Zweifelsfall

Ellipsen in Satzreihen

Beispiel
Bezugsinstanz Schriftsprache
Bewertung

Abart dieses Fehlers

Intertextueller Bezug


Zweifelsfall

Ellipsen bei der Reihung komplexer Wörter

Beispiel
Bezugsinstanz Schriftsprache
Bewertung

Frequenz/eine der häufigsten, widerwärtigsten, grober logischer Fehler, vollends arg, Sudelei, grobe Nachlässigkeit, richtig, schleppend, ganz irrig, kein grammatischer, aber ein grober Denkfehler

Intertextueller Bezug


Zweifelsfall

Ellipsen in koordinierten Phrasen

Beispiel
Bezugsinstanz Schriftsprache
Bewertung

um so störender

Intertextueller Bezug