Die sogenannte consecutio temporum

Aus Zweidat
Wechseln zu: Navigation, Suche
Buch Wustmann (1903): Allerhand Sprachdummheiten. Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen
Seitenzahlen 147 - 148

Nur für eingeloggte User:

Unsicherheit

In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle

Behandelter Zweifelfall:

Konjunktiv I, Konjunktiv II oder würde-Form

Genannte Bezugsinstanzen: Niederdeutsch, Oberdeutsch, Althochdeutsch, Gegenwärtig, Mitteldeutsch, Schriftsprache, Umgangssprache, Luther - Martin
Text

Daß ich sei oder: daß ich wäre! Oder? Was heißt oder? Ist es gleichgültig, welches von beiden gesetzt wird? oder richtet sich das nach dem Tempus des regierenden Hauptsatzes? Mit andern Worten: gibt es nicht auch im Deutschen etwas ähnliches wie eine consecutio temporum, die vorschreibt, daß auf die Gegenwart im Hauptsatz auch die Gegenwart im Nebensatze, auf die Vergangenheit im Hauptsatz auch die Vergangenheit im Nebensatze folgen müsse?

Das Altdeutsche hat seine strenge consecutio temporum gehabt. Die hat sich aber schon frühzeitig gelockert, und zwar ist in den nieder- und mitteldeutschen Mundarten der Konjunktiv der Vergangenheit, in den oberdeutschen der Konjunktiv der Gegenwart bevorzugt worden. Dort ist die Vergangenheit auch nach Hauptsätzen der Gegenwart, hier die Gegenwart auch nach Hauptsätzen der Vergangenheit vorgezogen worden. Eine weitere Entwicklungsstufe, auf der wir noch stehen, ist die, daß die Eigentümlichkeit der oberdeutschen Mundarten, die Bevorzugung der Gegenwart, weiter um sich griff und mit der Eigentümlichkeit der mittel- und niederdeutschen in Kampf geriet. Schon Luther schreibt (Ev. Joh. 5, 15): der Mensch ging hin und verkündigte es den Juden, es sei Jesus, der ihn gesund gemacht habe. Der gegenwärtige Stand ist der — was namentlich auch für Ausländer gesagt sein mag —, daß es in allen Fällen, mag im regierenden Satze die Gegenwart oder die Vergangenheit stehen, im abhängigen Satze unterschiedlos sei und wäre, habe und hätte, gewesen sei und gewesen wäre, gehabt habe und gehabt hätte heißen kann. Es ist ebensogut möglich, zu sagen: er sagt, er wäre krank — er sagt, er wäre krank gewesen — er sagte, er sei krank — er sagte, er sei $Seite 148$ krank gewesen — wie: er sagt, er sei krank — er sagt, er sei krank gewesen, er sagte, er wäre krank — er sagte, er wäre krank gewesen. In der Schriftsprache ziehen viele in allen Fällen den Konjunktiv der Gegenwart als das Feinere vor und überlassen den Konjunktiv der Vergangenheit der lässigern Umgangssprache. Wenn sich aber jemand in allen Fällen lieber des Konjunktivs der Vergangenheit bedient, so ist auch dagegen nichts Ernstliches einzuwenden. Wen vollends die Verwirrung der Tempora in seinem Sprachgefühl verletzt, wem es Bedürfnis ist, auch jetzt noch eine ordentliche consecutio temporum zu beobachten, den hindert nichts, auch das zu tun. Das alles ist nun freilich eine Willkür, die ihresgleichen sucht; aber der tatsächliche Zustand ist so.

Glücklicherweise hat diese Willkür doch ihre Grenzen, und daß von diesen Grenzen die wenigsten eine Ahnung haben, ist nun wieder einer der traurigsten Beweise von der fortschreitenden Abstumpfung unsers Sprachgefühls.


Zweifelsfall

Konjunktiv I, Konjunktiv II oder würde-Form

Beispiel
Bezugsinstanz althochdeutsch, gegenwärtig, Umgangssprache, Luther - Martin, mitteldeutsch, niederdeutsch, oberdeutsch, Schriftsprache
Bewertung

dagegen nichts Ernstliches einzuwenden, ebensogut möglich, Feinere, unterschiedlos heißen kann, Willkür

Intertextueller Bezug