Speißenkarte oder Speißekarte?
Buch | Wustmann (1903): Allerhand Sprachdummheiten. Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen |
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Seitenzahlen | 70 - 72 |
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Unsicherheit |
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In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle
Behandelter Zweifelfall: | |
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Genannte Bezugsinstanzen: | Gastronomie, Leipzig, Fachsprache (Druckereiwesen), Alt, Neu, Sprachverlauf, Volk |
Text |
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Da haben also wohl die Schenkwirte, die statt der früher allgemein üblichen Speißekarte eine Speißenkarte eingeführt haben, etwas recht weises getan? Sie $Seite 71$ haben den guten alten Genitiv wiederhergestellt? Nein, daran haben sie nicht gedacht, sie haben die Mehrzahl ausdrücken wollen, denn sie haben sich überlegt: auf meiner Karte steht doch nicht bloß eine Speiße. Damit sind sie nun aber auch wieder gründlich in die Irre geraten. In Speißekarte ist die erste Hälfte gar nicht durch das Hauptwort Speiße gebildet, sondern durch den Verbalstamm von speißen (wie in Lesebuch, Schiebetür). Alles, was zum Speißen gehört: die Speißekammer, das Speißezimmer, das Speißegeschirr, der Speißezettel — alles ist mit diesem Verbalstamm zusammengesetzt. So ist auch die Speißekarte nicht die Karte, auf der die Speißen verzeichnet stehen, sondern die Karte, die man beim Speißen gebraucht, wie die Tanzkarte die Karte, die man beim Tanzen gebraucht, das Kochbuch das Buch, das man beim Kochen benutzt, die Spielregel die Regel, die man beim Spielen beobachtet, die Bauordnung die Ordnung, nach der man sich beim Bauen richtet, die Singweise die Weise, nach der man singt, das Stickmuster das Muster, nach dem man stickt, die Zählmethode die Methode, nach der man zählt. Alle diese Wörter sind mit einem Verbalstamm zusammengesetzt, hätten die Schenkwirte mit ihrer Speißenkarte Recht, dann müßten sie ja auch Weinekarte sagen.//* Ähnlich verhält sichs mit dem neuen Modewort Anhaltspunkt. Früher sagte man: ich finde keinen Anhaltepunkt, d. h. keinen Punkt, wo ich mich anhalten könnte (vgl. Siedepunkt, Gefrierpunkt). Daneben hatte man noch in demselben Sinne das Substantiv Anhalt; man sagte: dafür fehlt es mir an jedem Anhalt. Aus beiden aber einen Anhaltspunkt zu bilden war doch wirklich überflüssig. Wahrscheinlich hat man geglaubt, damit einen feinen Unterschied zu schaffen zu den Anhaltepunkten auf den Eisenbahnen. Als ob Anhaltepunkt nicht ebensogut die Stelle bedeuten könnte, wo man sich anhält, wie die, wo man anhält!// Glücklicherweise lässt sich der Volksmund nicht irre machen. Niemals hört man in einer Wirtschaft eine Speißenkarte verlangen, es wird immer nur gedruckt entweder auf Verlangen der Wirte, die damit etwas besonders feines ausgeheckt zu haben glauben, oder auf Drängen der Accidenzdrucker, die es den Wirten als etwas besonders feines aufschwatzen. Ganz lächerlich ist es, wenn $Seite 72$ manche Wirte einen Unterschied machen wollen: eine Speißekarte sei die, aus der ich mir eine Speiße aussuchen könne, eine Speißenkarte dagegen ein „Menu," das Verzeichnis der Speißen bei einem Mahl, wofür man neuerdings auch das schöne Wort Speißenfolge erfunden hat. Die Speißekarte ist die Karte, die zum Speißen gehört, ob ich mir nun etwas darauf aussuche, oder ob ich sie von oben bis unten abesse. Ein Gegenstück zur Speißenkarte ist die Fahrrichtung; an den ehemaligen Leipziger Pferdebahnwagen stand: nur in der Fahrrichtung abspringen! Es spricht aber niemand von Fließrichtung, Strömrichtung, Schußrichtung, wohl aber von Flußrichtung, Stromrichtung, Schußrichtung, Windrichtung, Strahlrichtung. Bedenkt man freilich, daß der Volksmund die Fahrtrichtung unzweifelhaft binnen acht Tagen zur Fahrtsrichtung verschönert hätte (nach Mietskaserne), so muß man ja eigentlich für die Fahrrichtung sehr dankbar sein. |
Zweifelsfall | |
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Beispiel | |
Bezugsinstanz | Fachsprache (Druckereiwesen), Sprachverlauf, alt, alt, Leipzig, neu, Gastronomie, Volk, Gastronomie, Gastronomie |
Bewertung |
recht weise, gründlich in die Irre geraten, überflüssig, ganz lächerlich |
Intertextueller Bezug |