Tempusverirrung beim Infinitiv

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Buch Wustmann (1903): Allerhand Sprachdummheiten. Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen
Seitenzahlen 109 - 110

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Unsicherheit

In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle

Behandelter Zweifelfall:

Verb: Formenbildung bei mehrteiligen Verbkomplexen

Genannte Bezugsinstanzen: Gesprochene Sprache, Schriftsprache
Text

Wenn jemand anstatt: da muß ich mich geirrt haben — sagte: da mußte ich mich irren oder: da habe ich mich irren müssen, so würde man ihn wohl sehr verdutzt ansehen, denn eine solche Tempusverschiebung aus dem Infinitiv in das regierende Verbum ließe auf eine etwas ungewöhnliche Geistesverfassung schließen. Der Fehler wird aber gar nicht selten gemacht, nur daß er nicht immer so verblüffend hervortritt, z. B.: die Ausstattung der Bühne, die ziemlich prunkvoll beliebt zu sein schien (anstatt: beliebt gewesen zu sein scheint) — ich glaube bewiesen zu haben, daß die Verfügung des Oberpräsidenten an dem Anschwellen der Bewegung nicht schuld sein konnte (anstatt: nicht schuld gewesen sein kann). Nicht besser, eher noch schlimmer ist es, die Vergangenheit doppelt zu setzen, z. B.: später mochten wohl die Arbeiten für den Kurfürsten dem Künstler nicht mehr die Muße gelassen haben. Wenn ein Vorgang aus der Vergangenheit nicht als wirklich, sondern mit Hilfe von scheinen, mögen, können, müssen nur als möglich oder wahrscheinlich hingestellt werden soll, so gehört die Vergangenheit natürlich nicht in $Seite 110$ die Form der Aussage, denn die Aussage geschieht ja in der Gegenwart, sondern sie gehört in den Infinitiv. Es muß also heißen: mögen nicht gelassen haben.

Manche möchten es ja nun gern richtig machen, sind sich aber über die richtige Form des Infinitivs nicht klar. Wenn z. B. jemand schreibt: Ludwig scheint sich durch seine Vorliebe für die Musik etwas von den Wissenschaften entfernt zu haben — und sich einbildet, damit den Satz: Ludwig hatte sich von den Wissenschaften entfernt — in das Gebiet der Wahrscheinlichkeit gerückt zu haben, so irrt er sich. Die Tempora des Indikativs und des Infinitivs entsprechen einander in folgender Weise:

L. entfernt sich — scheint sich zu entfernen.

L. entfernte sich — scheint sich entfernt zu haben (nämlich damals).

L. hat sich entfernt — scheint sich entfernt zu haben (nämlich jetzt).

L. hatte sich entfernt — scheint sich entfernt gehabt zu haben.

L. wird sich entfernen — scheint sich entfernen zu wollen.


Zweifelsfall

Verb: Formenbildung bei mehrteiligen Verbkomplexen

Beispiel
Bezugsinstanz gesprochene Sprache, Schriftsprache
Bewertung

ungewöhnliche Geistesverfassung, nicht besser, eher noch schlimmer, so irrt er sich

Intertextueller Bezug