Engel(1922) Das Zeitwort 2 Zusammengesetzte Zeitwörter: Unterschied zwischen den Versionen

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|KapitelText=Eine noch immer wachsende Zahl von Umstandswörtern nimmt vorwörtliche Bedeutung und Fügung an, und diesem Sprachtriebe soll man nur da entgegentreten, wo er auszuarten und die einfacheren Mittel zu verdrängen droht. Solch Fall liegt vor bei ''seitens''. Es ist zwar noch lange nicht ,der größte Greuel' und ,eine wahre Krankheit am Leibe unsrer$Seite 181$Sprache' — der Leser kennt die einzige wahre Krankheit des Deutschen; aber in neuerer Zeit nimmt seitens, besonders in der Amtsprache, derart überhand, daß ihm Einhalt ge-boten werden muß. Im Kanzleistil steht es beinah grund-sätzlich an Stelle des von oder einer noch schlichteren, vor-wortlosen Fügung. Selbst die unterste Behörde tut selber nichts, sondern alles wird von oder noch lieber seitens der Behörde getan. Anstatt: ,Der Nachtwächter tat sofort die nötigen Schritte', was zwar genügt, aber nicht kanzleifein genug klingt, heißt es: ,Seitens des Nachtwächters wur-den ..' Der Mißbrauch fließt aus einer reichen unterirdischen Quelle: der Kanzleibeamte bis hoch hinauf will nicht erkenn-bar mit seiner Person hervortreten; der niedere will sich mit irgendwelchem Sprachmittelchen erhöhen, der obere sich aus Furcht vor einer Bloßstellung dahinter verstecken. Daher nicht bloß die Satzverrenkung aus dem einfachen: der unterzeichnete Beamte — Nachtwächter, Schreiber, Vorsteher, Staats-sekretär — erachtet, bemerkt, erwidert; sondern so wolkig allgemein wie möglich, also nicht in klarer Tatform: ich er-achte, sondern in der weniger klaren Leideform: es wird er-achtet, und die Person hinter Wortschleiern verhüllt. Sei-tens der Verwaltung wird . ., oder noch verschwommner: Diesseits wird . ., Von seiten der . . wird .. An sich wäre seitens unter Umständen gar nicht so verwerflich; der stete Gebrauch hat es zum Mißbrauch gestempelt, so daß ein guter Schreiber, auch in den Kanzleien, sich davor hütet.
|KapitelText=In zwei Hauptpunkten gilt es hier, Zweifel zu klären, Schwankungen in Festigkeit zu verwandeln: in der Frage nach den Grenzen des Zusammenziehens und in der nach der Beugung der Zusammensetzungen. Wie überall so hier darf uns kein von außen der Sprache aufgezwungenes eigenherr-liches Gelehrtengesetz, sondern einzig die zurzeit von den Ge-bildetsten gesprochene und geschriebene Sprache leiten.
Nicht besser steht es um die Verbindungen mit .. seits. Ein gelegentliches, vereinzeltes meinerseits, unserseits ist zur Not erträglich, allerdings unedel; das so ziemlich an jedes Beiwort, wohinter ein Hauptwort steckt, angeklebte seits ist stroherne Kanzleisprache, nicht Menschenrede: kirchlicherseits, universitätlicherseits, städtischerseits — es ist wirklich mit das Äußerste, was an Unsprache geleistet wird.
Ganz ebenso wie bei den zusammengesetzten Hauptwörtern begegnen wir bei den Zeitwörtern überall der Bekrittelung oder beschimpfenden Verhöhnung vieler Neubildungen, die sich den Krittlern und Schimpfern zum Trotz, meist noch bei deren Lebzeiten, siegreich durchgesetzt haben. Als allgemeines Gesetz fürs Urteil kann gelten: die Duldung selbst der kühnsten Versuche ist vernünftiger als die engherzige Beanstandung. Denn hier wie allenthalben im Sprachleben entscheidet der Erfolg im großen, nicht der Geschmack eines noch so selbst-bewußten vereinzelten Eigenbrötlers. Als immer wieder vor-zuführendes Beispiel muß gelten die jetzt in die Hunderte gehende Zahl der heute selbstverständlich erscheinenden, unent-behrlichen Verdeutschungen solcher Fremdwörter, die noch vor hundert, vor fünfzig, vor zehn Jahren für ebenso unersetz-bat wie unübersetzbar galten. Auch unter den heute von keinem mehr beanstandeten Neubildungen gibt es mehr als ein zusammengesetztes Zeitwort, das beim ersten Auftreten ausgelacht und verdammt wurde. ,Beanstanden' selbst gehört dazu, ,verantworten' gehört dazu; ,beanspruchen, vervollstän-digen, beweihräuchern, beschlagnahmen' — alle zu ihrer Zeit ebenso verhöhnt und bemakelt wie von den heutigen Sprach-merkern ,entgegennehmen, klarlegen, richtigstellen, abstürzen'.
 
Wie steht es danach mit dem Neuwort vermittelpunk-ten statt ,zentralisieren', ,entmittelpunkten' statt ,dezentrali-sieren'? Wer kein ausgemachter Philister und Hasser jedes neuen Sprachgebildes ist, tut gut, sein Gelächter beim ersten Anhören zu unterdrücken, denn wer zuletzt lacht, lacht am besten, so z. B. heute die Sprachgeschichtschreiber über das Gelächter Derer, die sich einst lustig gemacht über ,beanstanden, vervollständigen' usw. ,Vermittelpunkten' ist genau so gut ge-bildet wie beanstanden oder beanspruchen.   ,Punkten' ist kein$Seite 211$neues Wort: ,der Schmetterlingsflügel ist schwarzgepunktet' ist gutes Deutsch. ,Vermittelpunkten' ist fünfsilbig, ,zentralisieren' fünfsilbig; ,entmittelpunkten' ist auch fünfsilbig, ,dezentrali-sieren' sechssilbig. Ver- und entmittelpunkten sind jedem Deutschen verständlich, sind aus guten deutschen Wörtern und Formsilben gut zusammengesetzt, fügen sich in die Betonungs-welt des Deutschen. Zentralisieren und dezentralisieren sind aus Rackerlatein griechischen Stammes, einer griechischen Ablei-tungssilbe is, einer altfranzösischen ier, einer deutschen en zu-sammengeleimt, — und das nennt man ein Wort, das eine Sprache? Das Einzige, was nach alledem gegen ver- und entmittelpunkten einzuwenden bleibt, ist: sie sind neu, man hat sie nie zuvor gehört. Dieser Einwand wird sehr schnell stumpf: man spreche sich solche Neuworte langsam, dann hur-tiger hintereinander fünfmal, zehnmal vor, wende sie versuchs-weise zunächst im eignen Kreise an, erprobe ihre Brauchbar-keit, ihre Bequemlichkeit und — warte auch dann noch mit seinem schnellen Urteil, bis man das eines Andern, mehrer Andrer gehört hat. Der Einwand aber: das Wort ist nur deutsch, der in Wahrheit sehr vielen Bekrittelungen unaus-gesprochen zugrunde liegt, ist doch für einen deutschen Men-schen mit nicht ganz verderbtem Sprachgefühl ohne Be-deutung. Übrigens würden vermitten und entmitten die-selben Dienste tun und noch eher die Welschwörter ausmerzen helfen.
Fast auf derselben Stufe steht anläßlich; es verdrängt vielfach das einfache und natürliche bei, aus einer Wichtig-tuerei, die sich mit Vorliebe der sprachlichen Breite bedient. Wir werden beim Kanzleistil noch eingehender mit ihr zu tun haben. ,Bei diesem Feste wurde die Anregung zu einem Denkmal gegeben' verwandelt sich in: ,Anläßlich dieses Festes . .'$Seite 182$ Was gegen anläßlich zu sagen ist, richtet sich auch gegen andre unechte breitspurige Vorwörter, wodurch, besonders in der Kanzleisprache, die echten kurzen Vorwörter verdrängt werden: gegen behufs statt zu, hinsichtlich statt für oder wegen, bezüglich (in bezug auf) statt über usw. Der Nichtkanzleischreiber schreibt dergleichen verblasene Streckwörter nicht, der sich und sein Amt achtende Kanzleimann sollte sie nicht schreiben.
Zusammenziehungen von dieser Art: das Inaugenscheinnehmen, das untertänige Aufdembauchliegen, das Nachhausekommen, das Ausderrollefallen (Nietzsche), das Answerkgehen, das Lenden-gürten, das Vonderhandweisen, das Zuspätkommen, das Auf-unseinprasseln, das Böckeschießen sind weniger auf ihre sprach-liche Ratsamkeit als auf ihre Stilwirkung zu prüfen. Man wird mit Recht der Verallgemeinerung solcher Bildungen keinen Geschmack abgewinnen; in seltnen Fällen und zu be-sonderer Durchschlagswirkung, namentlich zu spaßhafter, sind sie nicht zu verschmähen. Sie sind ja auch keine Eigentüm-lichkeit oder gar Unart des Deutschen allein; das Griechische kennt dieselbe Fügung: die Zusammenziehung ganzer Satz-glieder in hauptwörtliche Form durch das bequeme, dem La-teinischen mangelnde, Mittel des vorangesetzten sächlichen Ge-schlechtswortes
Ausgenommen steht besser mit dem 1. als dem 4. Fall: ,Sie waren alle da, sein Diener ausgenommen. — Keiner, ausgenommen mein Freund, hat sich daran beteiligt.' Bei Zeitwörtern, die einen bestimmten Fall verlangen, wird aus-genommen zum Umstandswort und verliert seinen Einfluß auf die Beugung: ,Ich erinnere mich jedes einzelnen Tages, ausgenommen des letzten'; doch wäre hier ,den letzten aus-genommen' nicht falsch.
Bei dank muß die einreißende Fügung mit dem Zweit-fall ebenso wundernehmen wie bei trotz; man sollte denken, der noch deutlich gefühlte Innensinn des Wortes müßte den Drittfall schützen. Es darf nur heißen: ,Dank dem Fleiße, dank dem schnellen Eingreifen.'
Die Vorwörter diesseit, jenseit bleiben besser ohne s: ,diesseit der Berge, jenseit des Flusses'; aber urnstandswört-lich: ,Diesseits herrscht Dunkel, jenseits Licht.' Der Unter-schied droht zu verschwinden, verdient aber Beachtung.
Umstandswörter für Ortsbezeichnungen: links, rechts, nördlich, südlich, nahe, unfern, unweit sind dem all-gemeinen Triebe verfallen und auf dem Wege zum Vorwort. Daß manche Pritschmeister die Sprache ob dieses ,Fehlers' rüffeln, ist ihr gleichgültig, denn sie weiß nichts von einem innersten Unterschiede zwischen Umstands- und Vorwort, son-dem sorgt nur für die Befriedigung ihres Fügungsbedürf-nisses. Die meisten heutigen Vorwörter, z. B. ein jetzt so ,echtes' wie wegen, stammen ursprünglich aus andern Rede-teilen. Heute noch für rückständige Sprachlehrer ,ein Fehler ist es doch', morgen schon eine sprachliche Selbstverständlich-keit. Unsre besten Heeresschreiber, z. B. Moltke, sagen kurz und bündig ,links und rechts der Elbe', und diesem Gebrauche beginnen nördlich, südlich zu folgen. Wer das jetzt noch für falsch hält, ist ja nicht gezwungen, so zu schreiben; er hüte sich aber, einen Schreiber mit anderm Sprachgefühl zu$Seite 183$schelten. Die Bewegung ist im Fluß und nicht mehr rück-zustauen.
Das Gleiche gilt für unfern, unweit. Von Rechts wegen, sagt der Zuchtmeister, dürfen sie nur als Umstands-wörter gebraucht werden, nämlich von Zuchtmeisterrechts wegen; aus ihrem eignen höheren Recht macht die Sprache sie zu Vorwörtern, und wir haben nur noch zu wählen zwischen ,unfern dem Walde' und ,des Waldes'. Der Sprach-gebrauch selbst hat sich noch nicht einseitig entschieden, also hat sich die bescheidne Sprachlehre zu bescheiden. Übrigens stehen diese Wörter mindestens seit dem 18. Jahrhundert als Vorwörter ohne von, und der überall Fehler aufstöbernde Meisterer muß mit seinem Von Rechtswegen schon gegen alle unsre Klassiker einschreiten. Schiller schreibt: unweit dem Flecken, Goethe: unfern des Tores. Der Meisterer verlangt: unweit von, unfern von.
Schön ist mangele vielleicht nicht: ,mangels genügender Einnahmen' ist leicht zu ersetzen durch: ,beim Fehlen' oder ,wegen nicht genügender Einnahmen'; aber die Sprache strebt nach Kürze und macht mit der Zeit aus Unschönem etwas Ge-wohntes und Unanstößiges. Wem mangels zuwider ist, der meide es, bilde sich aber nicht ein, daß die Sprache sich dauernd hindern lasse, solche ihr bequeme Hilfen des Ausdrucks zu benutzen. So hat sie neben ,im Namen' sich ,namens' ge-bildet und durchgesetzt. Der Sprachforscher und der Sprach-freund haben ihre Freude an solchen rastlosen Betätigungen des Schöpferdranges der Sprache; der Beckmesser steht an seiner Merkertafel, kreidet Fehler über Fehler an und keift: Versungen!
Nicht aus dem Safttriebe der Sprache, sondern aus dem Aktenstaub der Kanzleien ist zwecks hervorgegangen; es kommt bei keinem guten Schriftsteller vor, sondern einzig in der Sprache unterer Behörden und schlechtgeschriebener Zeitungen. Für zwecks liegt auch kein sprachliches Bedürfnis vor, denn zu, über, für usw. genügen vollauf in jedem Falle. ,Be-strebungen zwecks besserer Beleuchtung' statt ,zu besserer ..', ,Zwecks stärkerer Abschlachtung der Schweine wird verordnet ..' statt: ,über die . ., zu der . .'
Wenn ein so großer Teil des Volkes wie der Handelstand zur (nicht zwecks!) schärferen Veranschaulichung eines Ge-schäftsverhältnisses ein schon vorhandenes einfaches Wort, ab,$Seite 184$in neuer Anwendung wählt, so ist dagegen nicht zu wettern mit ,Schrulle des niedrigen Geschäftstils', um so weniger als grade der Großhandel sich des harmlosen Wörtchens be-dient: ,Die Fracht ab Berlin Anhalter Bahnhof, ab Hafen beträgt ..' Wird dieser bequeme Gebrauch der Geschäftsprache nicht verallgemeinert, so ist er so ungefährlich wie viele andre Eigentümlichkeiten von Fachsprachen. Ins Schriftdeutsche ist dieses ab noch nicht eingedrungen. Daß ab als Vorwort nichts Undeutsches ist, beweisen Eigennamen wie Abderhalden; auch sagt man im Alemannischen und Schwäbischen heute vielfach: ,Geh' ab dem Tisch!'$Seite 211$neues Wort: ,der Schmetterlingsflügel ist schwarzgepunktet' ist gutes Deutsch. ,Vermittelpunkten' ist fünfsilbig, ,zentralisieren' fünfsilbig; ,entmittelpunkten' ist auch fünfsilbig, ,dezentrali-sieren' sechssilbig. Ver- und entmittelpunkten sind jedem Deutschen verständlich, sind aus guten deutschen Wörtern und Formsilben gut zusammengesetzt, fügen sich in die Betonungs-welt des Deutschen. Zentralisieren und dezentralisieren sind aus Rackerlatein griechischen Stammes, einer griechischen Ablei-tungssilbe is, einer altfranzösischen ier, einer deutschen en zu-sammengeleimt, — und das nennt man ein Wort, das eine Sprache? Das Einzige, was nach alledem gegen ver- und entmittelpunkten einzuwenden bleibt, ist: sie sind neu, man hat sie nie zuvor gehört. Dieser Einwand wird sehr schnell stumpf: man spreche sich solche Neuworte langsam, dann hur-tiger hintereinander fünfmal, zehnmal vor, wende sie versuchs-weise zunächst im eignen Kreise an, erprobe ihre Brauchbar-keit, ihre Bequemlichkeit und — warte auch dann noch mit seinem schnellen Urteil, bis man das eines Andern, mehrer Andrer gehört hat. Der Einwand aber: das Wort ist nur deutsch, der in Wahrheit sehr vielen Bekrittelungen unaus-gesprochen zugrunde liegt, ist doch für einen deutschen Men-schen mit nicht ganz verderbtem Sprachgefühl ohne Be-deutung. Übrigens würden vermitten und entmitten die-selben Dienste tun und noch eher die Welschwörter ausmerzen helfen.
Zusammenziehungen von dieser Art: das Inaugenscheinnehmen, das untertänige Aufdembauchliegen, das Nachhausekommen, das Ausderrollefallen (Nietzsche), das Answerkgehen, das Lenden-gürten, das Vonderhandweisen, das Zuspätkommen, das Auf-unseinprasseln, das Böckeschießen sind weniger auf ihre sprach-liche Ratsamkeit als auf ihre Stilwirkung zu prüfen. Man wird mit Recht der Verallgemeinerung solcher Bildungen keinen Geschmack abgewinnen; in seltnen Fällen und zu be-sonderer Durchschlagswirkung, namentlich zu spaßhafter, sind sie nicht zu verschmähen. Sie sind ja auch keine Eigentüm-lichkeit oder gar Unart des Deutschen allein; das Griechische kennt dieselbe Fügung: die Zusammenziehung ganzer Satz-glieder in hauptwörtliche Form durch das bequeme, dem La-teinischen mangelnde, Mittel des vorangesetzten sächlichen Ge-schlechtswortes.
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Version vom 3. Januar 2017, 12:36 Uhr

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Buch Engel (1922): Gutes Deutsch. Ein Führer durch Falsch und Richtig.
Seitenzahlen 210 - 211

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Unsicherheit

In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle

Behandelter Zweifelfall:

Wortbildung: Suffigierung

Genannte Bezugsinstanzen: Gebildete, Sprachgelehrsamkeit, Welsch, Gegenwärtig, Neu, Sprachverlauf, Gesprochene Sprache, Schriftsprache
Text

In zwei Hauptpunkten gilt es hier, Zweifel zu klären, Schwankungen in Festigkeit zu verwandeln: in der Frage nach den Grenzen des Zusammenziehens und in der nach der Beugung der Zusammensetzungen. Wie überall so hier darf uns kein von außen der Sprache aufgezwungenes eigenherr-liches Gelehrtengesetz, sondern einzig die zurzeit von den Ge-bildetsten gesprochene und geschriebene Sprache leiten. Ganz ebenso wie bei den zusammengesetzten Hauptwörtern begegnen wir bei den Zeitwörtern überall der Bekrittelung oder beschimpfenden Verhöhnung vieler Neubildungen, die sich den Krittlern und Schimpfern zum Trotz, meist noch bei deren Lebzeiten, siegreich durchgesetzt haben. Als allgemeines Gesetz fürs Urteil kann gelten: die Duldung selbst der kühnsten Versuche ist vernünftiger als die engherzige Beanstandung. Denn hier wie allenthalben im Sprachleben entscheidet der Erfolg im großen, nicht der Geschmack eines noch so selbst-bewußten vereinzelten Eigenbrötlers. Als immer wieder vor-zuführendes Beispiel muß gelten die jetzt in die Hunderte gehende Zahl der heute selbstverständlich erscheinenden, unent-behrlichen Verdeutschungen solcher Fremdwörter, die noch vor hundert, vor fünfzig, vor zehn Jahren für ebenso unersetz-bat wie unübersetzbar galten. Auch unter den heute von keinem mehr beanstandeten Neubildungen gibt es mehr als ein zusammengesetztes Zeitwort, das beim ersten Auftreten ausgelacht und verdammt wurde. ,Beanstanden' selbst gehört dazu, ,verantworten' gehört dazu; ,beanspruchen, vervollstän-digen, beweihräuchern, beschlagnahmen' — alle zu ihrer Zeit ebenso verhöhnt und bemakelt wie von den heutigen Sprach-merkern ,entgegennehmen, klarlegen, richtigstellen, abstürzen'. Wie steht es danach mit dem Neuwort vermittelpunk-ten statt ,zentralisieren', ,entmittelpunkten' statt ,dezentrali-sieren'? Wer kein ausgemachter Philister und Hasser jedes neuen Sprachgebildes ist, tut gut, sein Gelächter beim ersten Anhören zu unterdrücken, denn wer zuletzt lacht, lacht am besten, so z. B. heute die Sprachgeschichtschreiber über das Gelächter Derer, die sich einst lustig gemacht über ,beanstanden, vervollständigen' usw. ,Vermittelpunkten' ist genau so gut ge-bildet wie beanstanden oder beanspruchen. ,Punkten' ist kein$Seite 211$neues Wort: ,der Schmetterlingsflügel ist schwarzgepunktet' ist gutes Deutsch. ,Vermittelpunkten' ist fünfsilbig, ,zentralisieren' fünfsilbig; ,entmittelpunkten' ist auch fünfsilbig, ,dezentrali-sieren' sechssilbig. Ver- und entmittelpunkten sind jedem Deutschen verständlich, sind aus guten deutschen Wörtern und Formsilben gut zusammengesetzt, fügen sich in die Betonungs-welt des Deutschen. Zentralisieren und dezentralisieren sind aus Rackerlatein griechischen Stammes, einer griechischen Ablei-tungssilbe is, einer altfranzösischen ier, einer deutschen en zu-sammengeleimt, — und das nennt man ein Wort, das eine Sprache? Das Einzige, was nach alledem gegen ver- und entmittelpunkten einzuwenden bleibt, ist: sie sind neu, man hat sie nie zuvor gehört. Dieser Einwand wird sehr schnell stumpf: man spreche sich solche Neuworte langsam, dann hur-tiger hintereinander fünfmal, zehnmal vor, wende sie versuchs-weise zunächst im eignen Kreise an, erprobe ihre Brauchbar-keit, ihre Bequemlichkeit und — warte auch dann noch mit seinem schnellen Urteil, bis man das eines Andern, mehrer Andrer gehört hat. Der Einwand aber: das Wort ist nur deutsch, der in Wahrheit sehr vielen Bekrittelungen unaus-gesprochen zugrunde liegt, ist doch für einen deutschen Men-schen mit nicht ganz verderbtem Sprachgefühl ohne Be-deutung. Übrigens würden vermitten und entmitten die-selben Dienste tun und noch eher die Welschwörter ausmerzen helfen. Zusammenziehungen von dieser Art: das Inaugenscheinnehmen, das untertänige Aufdembauchliegen, das Nachhausekommen, das Ausderrollefallen (Nietzsche), das Answerkgehen, das Lenden-gürten, das Vonderhandweisen, das Zuspätkommen, das Auf-unseinprasseln, das Böckeschießen sind weniger auf ihre sprach-liche Ratsamkeit als auf ihre Stilwirkung zu prüfen. Man wird mit Recht der Verallgemeinerung solcher Bildungen keinen Geschmack abgewinnen; in seltnen Fällen und zu be-sonderer Durchschlagswirkung, namentlich zu spaßhafter, sind sie nicht zu verschmähen. Sie sind ja auch keine Eigentüm-lichkeit oder gar Unart des Deutschen allein; das Griechische kennt dieselbe Fügung: die Zusammenziehung ganzer Satz-glieder in hauptwörtliche Form durch das bequeme, dem La-teinischen mangelnde, Mittel des vorangesetzten sächlichen Ge-schlechtswortes

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