Das Zeitwort 4. Das Mittelwort

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Buch Engel (1922): Gutes Deutsch. Ein Führer durch Falsch und Richtig.
Seitenzahlen 224 - 228

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Unsicherheit
Text

Es führt den deutschen Namen von seiner Doppelnatur: es steht in der Mitte zwischen Beiwort und Zeitwort, und die meisten Zweifel rühren her von dieser Mittelstellung. Die Sprachmeisterer verbieten der Zeitwortform den Zutritt zu vielen Anwendungen des Beiworts. Diese Abneigung hat ihren Hauptgrund in der Furcht, das Deutsche könne durch eine zu weit getriebene Mittelwörterei seinem Wesen entfremdet, dem Lateinischen und Griechischen, auch dem Französischen zu sehr angeähnlicht werden. Dieser Grund ist löblich, die Vorsicht vor Ausartungen berechtigt, dagegen die engherzige Bekämpfung eine Fessel für den Lebens- und Entwicklungstrieb des Deutschen. Es war einst reicher an Mittelwörtern, oder doch an deren Anwendungsmöglichkeiten; im Neuhochdeutschen aber herrscht eine Armut an diesem ausgezeichneten Ausdrucksmittel des knappen Satzbaus, die schon lange die kummervolle Aufmerksamkeit unsrer Schriftsteller erregt hat. Jean Paul eiferte über das Deutsche mit seiner ,erbärmlichen Partizipiendürftigkeit' und nannte es im Vergleich mit dem Römischen eine Hausarme, mit dem Griechischen eine Straßenbettlerin.

Man sollte meinen, bei solchem verkümmerten Vorrat und Gebrauch des Mittelwortes müßten die Pfleger und Wächter der Sprache alles tun oder doch alles zulassen, was uns, ohne dem Geist unsrer Sprache zuwiderzulaufen, nach und nach zu einem reichern Gebrauch des Mittelwortes verhelfen könnte. Das Gegenteil geschieht: fast jede deutsche Sprachlehre, fast jedes Fortbildungsbuch der deutschen Sprache bemängelt Mittelwortwendungen, die dem gebildeten Gebrauch längst vertraut, ja unentbehrlich geworden sind. Da wird ,bei einbrechender Nacht' für falsch erklärt und statt dessen ,bei Einbruch der Nacht' gefordert; auch dürfe man nicht sagen: ,das nächstens erscheinende Buch' , weil die Formen auf end (1. Mittelwort) nur in der gegenwärtigsten Gegenwart zulässig seien; es müsse ohne Rücksicht auf die notwendige Kürze heißen: ,Das Buch, das nächstens erscheinen wird' . Nun gar Tatform-Bedeutung mit Leideform-Mittelwort: ,ein gedienter Soldat, ein studierter Mann' erregt heftiges Kopfschütteln solcher Sprachmeister, denen ihre Regel: Das 2. Mittelwort gilt nur für $Seite 225$ Leidewortsinn, höher steht als die sich frei regenden Kräfte einer Sprache, die ihre Dürftigkeit auf diesem Gebiet ablegen möchte.

Wie für jede andre große Zweifelgruppe gilt für diese der Grundsatz: Wo sich der gebildete Rede- und Schriftgebrauch eine Freiheit und damit eine Bereicherung schon fest zu eigen gemacht, da soll sich die Regel fügen, sich mit einer biegsamen Ausnahme dem neuen Sprachstande anpassen und eher zu weit- als zu engherzig sein. Zahlreiche nicht mehr zu beanstandende Mittelwortfügungen, die zuerst für ganz falsch gegolten, müssen heute für ganz richtig gelten, weil alle Welt sie spricht und schreibt. Wo nur immer ein weitverbreiteter Sprachgebrauch sich mit einem annehmbaren Grunde der Auffassung der Sprechenden stützen läßt, da mag man lieber den sich auf die ,Logik' und die ,Analogie' berufenden Zweifel fallen lassen und ihn an den Sprachrichter der Zukunft verweisen, meist schon an den der allernächsten, der gar nicht begreifen wird, warum überhaupt gezweifelt wurde.

Der Kampf gegen die beiden Mittelwörter richtet sich fast mit gleicher Schärfe gegen das erste wie das zweite, hat es aber beim ersten insofern leichter, als alle Welt einig ist, daß im Deutschen die meisten lateinischen und griechischen Anwendungen des 1. Mittelwortes unmöglich sind. Sie werden aber auch fast niemals gewagt. Wer schreibt denn: ,Dies gesagt habend, ging er weg; Die Franzosen schlagend und einen ruhmreichen Frieden herbeiführend, konnte Moltke ..' Indessen solche schlechte Fälle des 1. Mittelwortes widersprechen nicht seiner Anwendung da, wo es zur Straffung des Satzes dient, ohne in Widerspruch mit Bau und Geist des Deutschen zu geraten. Was ist z. B. gegen die gehäuften Mittelwörter in diesem Satze Goethes zu sagen: ,Der Dichter, der immer in sich lebend, strebend und urteilend, bald die unschuldigen Gefühle der Jugend ..' ? Nicht nur nichts, sondern manches wäre für sie zu sagen. Oder gegen diese Sätze von Neueren: ,Die stark verregnete Karte in der Linken, hier und dort einen Kameraden grüßend, mir von Patrouillen Auskunft geben lassend, trabte ich meinem Ziele zu (Liliencron). — Er weiß die einzelnen Kunstwerke hinreißend zu beschreiben, gern sittliche Motive herauskehrend' (Erich Schmidt). Der Leser wird bei Prüfung dieser Sätze selbst leicht ent- $Seite 226$ decken, welche Umständlichkeiten im Satzbau durch das knappe Mittelwort vermieden werden. Ich darf wohl auch einmal einen längst gedruckten Satz von mir als Beispiel hersetzen (aus ,Sprich Deutsch!', S. 178: ,.. ohne die Puristen, die nach deutscher Art ihre Sache um ihrer selbst willen betrieben und, nicht Spott noch Hohn achtend, sich vor der stärksten aller Mächte, der Dummheit, nicht fürchtend, Schritt vor Schritt ihren dornenvollen Weg dahinzogen.' Hätte ich besser getan, statt der sich glatt einfügenden Beisatzform zwei Nebensätze einzuschachteln, etwa mit ohne zu? Ich wählte bewußt das Mittelwort, da ich mich vor den Sprachmeistern nicht über Gebühr fürchte. — Also keine allgemeine Verbieterei gegen das 1. Mittelwort da, wo es nicht als Beiwort, sondern als Beisatzwort erscheint; nur die überall nötige Warnung vor Mißbrauch und die Mahnung zur Vorsicht unter der Feder der Ungeübten. Verpflichtet ist ja niemand, sich in eine Sprachgefahr zu begeben, der er sich nicht gewachsen fühlt.

Das 1. Mittelwort heißt auch das der Gegenwart, doch folgt heraus nicht, daß es ausschließlich und im engsten Sinne gegenwärtig gebraucht werden darf. Die Sprache versetzt sich mit ihrer, d. h. des Sprechenden, Phantasie in jede Zeit, Vergangenheit oder Zukunft, und gestaltet sie zur Sprachgegenwart. Wie es erlaubt ist, zu schreiben: ,Ein im 18. Jahrhundert sterbender Deutscher konnte noch so gut wie nichts von Goethes Faust wissen' , ist es auch erlaubt, von der ,morgen stattfindenden Aufführung' zu sprechen. Unerlaubt jedoch ist die Vermengung von Vergangenheit und Gegenwart in Sätzen, die jede Gleichzeitigkeit, das Hauptmerkmal und -Erfordernis des 1. Mittelwortes, ausschließen. ,Er verließ das Elternhaus, bald mit einer Nachricht zurückkehrend, durch die er allgemeine Freude erweckte.' Dieser Satz ist von ganz andrer Innenfügung als die oben angeführten, denen er nur im äußerlichen Bau ähnlich sieht. Alle Vernunft des Lesers sträubt sich gegen die Gleichzeitigkeit des Geschehens, die unabweislich durch das 1. Mittelwort bezeichnet wird, das ebensowohl Mittelwort der Gleichzeitigkeit heißen dürfte.

Nicht ganz so schlimm steht es mit dem berühmten Beispielsatze Goethes: ,Den 26. Oktober von Zürich abreisend, langten wir den 6. November in Nürnberg an.' Dies ist nachlässiger Tagebuchstil, kein musterhafter, aber zur Not erträglich. Wird die Gleichzeitigkeit — sie ist das Entschei- $Seite 227$ dende — ausdrücklich aufgehoben, so wird dadurch das 1. Mittelwort aller Gefährlichkeit entkleidet, und es darf fehlerlos geschrieben werden: ,Wir freuen uns schon heute auf die morgen (nächstens, bald) stattfindende Vorstellung' : hier haben wir eine der für die voraus- oder rückschauende Phantasie mit jedem Zeitbegriff verträglichen Gegenwarten.

Die Bedenklichkeit des 1. Mittelwortes in einem Satze wie: ,Die lebende Ankunft der Fische wird zugesagt' leuchtet ein; es ist aber nicht unmöglich, daß dergleichen sich zur festen Fachredewendung ausbildet, die wir alsdann wollend oder nichtwollend (!) hinnehmen müßten mit der Entschuldigung, daß eine andre bessre und ebenso kurze Ausdrucksform schwer zu finden ist. Hingegen ein 1. Mittelwort wie in ,Diese Zigarren werden staunend billig verkauft' braucht niemand zu dulden, denn um der Ersparnis einer Silbe willen — staunend statt erstaunlich — darf man keinen groben Sprachschnitzer begehen.

In manchen stehenden Wendungen nehmen nur noch die rückständigsten Sprachmeister an einem 1. Mittelwort Anstoß. Beanstandet werden kaum noch: ,bei nachtschlafender Zeit, die sitzende Lebensweise, die schwindelnde Höhe, ein ausnehmendes Vergnügen, der meistbietende Verkauf, die fahrende Habe, die stillschweigende (selbstredende) Bedingung, der Brief wird umgehend beantwortet, die betreffende Stelle, die fallende Sucht' . Wer verliert heute noch ein Wort über solche ehemalige ,Ungeheuerlichkeiten'? Im 18. Jahrhundert ging die geduldete Freiheit noch viel weiter; da durfte Goethe wie alle Welt schreiben: ,zu einer vorhabenden Reise' , oder Herder: ,die innehabende Stelle' , andre: ,das mit sich führende Gepäck, die unterhabenden Beamten' . In solchen Fällen hat sich heute eine größere Strenge durchgesetzt.

Man hat eine Verbotstafel aufrichten wollen gegen das 1. Mittelwort der Hilfszeitwörter. Schon angesichts der mittelwörtlichen Hauptwörter ,ein Werdender, alles Seiende' ist solch ein allgemeines Verbot unhaltbar. Man darf aber auch gegen ein gelegentliches echtes 1. Mittelwort von Hilfszeitwörtern nichts einwenden; ,die mit solchem Eifer berühmt werden wollenden Künstler' ist eine fehlerlose Wendung.

Das 1. Mittelwort bekommt die Bedeutung der Leideform durch Vorgesetztes zu, aber nur bei abzielenden Zeitwörtern, die den 4. Fall des Zielwortes fordern: ,die zu verrichtende Arbeit, $Seite 228$ der zu strafende Verbrecher, die zu duldende Behandlung' ; aber nicht: ,die einzutretende Behandlung' . Die leidende Bedeutung dieser Form wird so deutlich gefühlt, daß sich keine Ausnahme, auch nicht in stehenden Fügungen, durchgesetzt hat. Im Kanzleideutsch kommen zwei vor: ,die zu erscheinenden Wähler, die anzutretenden Mannschaften'; aber man ist darüber einig, daß dies schlechtes Deutsch ist. Also auch nicht: ,das im nächsten Jahr zu erscheinende Werk (wohl aber: das .. herauszugebende), die heute einzutreffenden Reisenden' (wohl aber: die .. zu erwartenden).


Zweifelsfall

Partizipialgruppen und Konkurrenzkonstruktionen

Beispiel
Bezugsinstanz Ursprünglich, Neuhochdeutsch, Gesprochene Sprache, Schriftsprache, Liliencron - Detlef von, Schmidt - Erich, Lessing - Gotthold Ephraim, Schreiber schlechten Stils, Goethe - Johann Wolfgang, Fachsprache, 18. Jahrhundert, Herder - Johann Gottfried, Behördensprache, Schreiber schlechten Stils
Bewertung

löblich, berechtigt, unentbehrlich, für falsch erklärt, kein musterhafter, aber zur Not erträglich, fehlerlos, eine fehlerlose Wendung, schlechtes Deutsch

Intertextueller Bezug Jean Paul, Engel: Sprich Deutsch!, S. 178