Mißbrauch des Bedingungssatzes

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Buch Wustmann (1903): Allerhand Sprachdummheiten. Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen
Seitenzahlen 132 - 134

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Unsicherheit

In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle

Behandelter Zweifelfall:

Subjunktion: Semantik

Genannte Bezugsinstanzen: Gegenwärtig, Schriftsprache
Text

Das temporale Fügewort während, das zunächst zwei Vorgänge als gleichzeitig hinstellt, kommt auf sehr leichte und natürliche Weise dazu, zwei Handlungen einander entgegenzusetzen. Den Übergang sieht man an einem Satze wie folgendem: während ihr euerm Ver- $Seite 133$ gnügen nachgingt, habe ich gearbeitet; das Fügewort kann hier noch rein temporal aufgefaßt werden, aber auch schon mit einer Neigung zum Adversativen. Man muß aber in der Anwendung der adversativen Bedeutung von während sehr vorsichtig sein, sonst kommt man leicht zu so lächerlichen Sätzen wie: während Herr W. die Phantasie von Vieuxtemps für Violine vortrug, blies Herr L. ein Nocturno für Flöte von Köhler — der Minister besuchte gestern (!) die Schulen in Marienthal und Leubnitz, während er heute (!) die Besuche in den hiesigen Schulanstalten fortsetzte — König Albert brachte ein Hoch auf den Kaiser aus, während der Kaiser ihm dafür dankte.

Geradezu ein Unfug aber ist es, Bedingungssätze in abversativem Sinne zu verwenden. Es scheint das aber jetzt für eine ganz besondre Feinheit zu gelten. Man schreibt: wenn bei vielen niedrigen Völkern die Priester als Träger höherer Bildung zu betrachten sind, so ist das bei den Ephenegern nicht der Fall — wenn Philostorgius die Kirchengeschichte des Eusebius in arianischem Sinne fortsetzte, so taten es Sokrates und andre mit katholisch-orthodoxer Tendenz — wenn der ästhetisch genießende die Gesamtheit einer Dichtung auf sich wirken läßt, so vermag die wissenschaftliche Betrachtung nur auf Grund einer zergliedernden Interpretation ihr Werk zu verrichten — wollte Adelung die Sprache hauptsächlich als Verständigungsmittel behandelt wissen, so forderte Herder eine individuelle, schöpferische Empfindungssprache. Auch vergleichende Nebensätze werden schon, anstatt mit wie, mit wenn gebildet: wenn Indien die Geschichte der Philosophie in nuce enthält, so ist es an Materialien für die Geschichte der Religion gewiß reicher als ein andres Land — wenn bei uns vielfach über den Niedergang des politischen Lebens geklagt wird, so ist auch in Amerika, wo das politische Leben schon bisher nicht sehr hoch stand, ein solcher Niedergang bemerkbar — war der Verein schon immer bestrebt, die reichen Kunstschätze Freibergs zu heben, so ist das in besonderm Maße in dem vorliegenden Hefte gelungen. Ebenso Kausalsätze: wenn die Macht der Sozialdemokratie in der Organi- $Seite 134$ sation liegt, so müssen wir uns eben auch organsieren. Ebenso Konzessivsätze: wenn die gestellte Aufgabe sich zwar (aha!) zunächst nur auf die Untersuchung der Goldlagerstellen bezog, so war es doch nötig, auch andre Minerale in den Kreis der Betrachtung hereinzuziehen. Sogar wo einfach zwei Hauptsätze am Platze wären, kommt man jetzt mit diesem wenn angerückt: wenn im frühern Mittelalter die meisten Häuser einfache Holzhäuser gewesen waren, so ist man erst später aus diesem Zustande herausgekommen — war das Handpressenverfahren ungeeignet, so konnte das Typendruckverfahren hinsichtlich der Güte nicht genügen. Welcher Unsinn!

Wenn diese Art, sich auszudrücken, weitere Fortschritte macht, so wird es noch dahin kommen, daß der Bedingungssatz alle andern Arten von Fügewortsätzen nach und nach auffrißt.

Scan
Wustmann(1903) 132-134.pdf


Zweifelsfall

Subjunktion: Semantik

Beispiel
Bezugsinstanz gegenwärtig, Schriftsprache
Bewertung

lächerlichen Sätzen, Mißbrauch, scheint jetzt für eine ganz besondre Feinheit zu gelten, Unfug, Unsinn

Intertextueller Bezug