Das Umstandswort *3

Aus Zweidat
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Buch Engel (1922): Gutes Deutsch. Ein Führer durch Falsch und Richtig.
Seitenzahlen 161 - 163

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Unsicherheit

In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle

Behandelter Zweifelfall:

Lexikalische Ambiguität

Genannte Bezugsinstanzen: Schiller - Friedrich, Zeitungssprache
Text

Was will der Satz: ,Städtische Betriebsverwaltungen erzielen in Großstädten wie Berlin selten hohe Überschüsse' $Seite 162$ besagen? Wer ihn in einer Zeitung liest und an sich zu verstehen sucht, muß zuerst untersuchen, ob er einen Schreiber mit gutem oder mit mittelmäßigem Deutsch vor sich hat. Im ersten Falle erzielt man in Berlin ungewöhnlich hohe, im zweiten nur geringe oder gar keine Überschüsse. Der Gebrauch von selten vor Beiwörtern, um diese zu steigern, ist sehr gefährlich. Es lassen sich Sätze bauen, die der Leser wohl kaum falsch verstehen wird, etwa: ,Sie ist ein selten schönes Mädchen' ; das ändert nichts an der leidigen Zweideutigkeit von selten vor Beiwörtern. ,Dieser Weinberg bringt selten große Trauben hervor.' Bringt er sehr große Trauben oder zumeist nur mittelgroße hervor? ,Ein selten nüchterner Droschkenkutscher?' Der Leser muß ein Stück weiter lesen, um den wahren Sinn zu erraten. Den aber soll ihm der Schreiber mit den reichlich vorhandenen Mitteln seiner Sprache sofort unzweideutig vermitteln, denn das ist seine Aufgabe; es ist nicht die Aufgabe des Lesers, sie aus einem mehrdeutigen Wort zu erraten. Hier muß ich ausnahmsweise dem trefflichsten Verteidiger des unaufhörlichen Sprachlebens und Sprachwandels Wilhelm Fischer widersprechen, der in seinem prächtigen Büchlein ,Die deutsche Sprache von heute' (Leipzig, Teubner) über das falsche ,selten' sagt: ,Wenn in einigen Fällen sich wirklich ein ernstlicher Zweifel erheben kann, so ist das kein Grund, den Gebrauch in allen Fällen zu verurteilen.' Er unterschätzt einen in unsrer Zeit zum Glück immer gewichtiger werdenden Grund, solche anrüchige Gebräuche lieber ganz zu verbieten: die Aufmerksamkeit sehr vieler Leser ist durch die Unterweisungen in Sprachlehren aller Art so geschärft, daß jede Anwendung eines bemakelten Ausdrucks jetzt strenger geprüft wird. Das falsche selten ist schon so oft lächerlich gemacht worden, daß ein Schreiber gut tut, es lieber zu meiden, denn der erste Eindruck auf den Leser ist der einer Anstößigkeit.

Übrigens ist die Möglichkeit des Mißverstehens ziemlich groß. ,Die selten zuverlässige Times berichtet ..' ? Vor dem Weltkriege war die Times in der Tat ein gutunterrichtetes Blatt, — wohinaus soll also des Lesers erste Verständnisregung gehen? Er wird gezwungen, hin und her zu denken, und das ist nicht des Schreibens Zweck; vielmehr soll der Schreiber hin und her denken, wie er sich dem Leser unzweideutig klar machen könne. Ein Satz hebt an: ,Bei dem selten gün- $Seite 163$ stigen Wetter der letzten Monate —' . In welche Richtung soll das Denken des Lesers sich einstellen? Das ist von Wichtigkeit, und jeder Schreiber sollte die Möglichkeit sorgsam vermeiden, daß der Satzanfang vom Satzende lügengestraft werde. Jener Satz fährt fort: ,. . konnte die Heuernte in den meisten Gemeinden der Eifel nur sehr kärglich ausfallen' . Die meisten Leser werden durch die zwei letzten Worte gezwungen sein, ihr ganzes Denken umzustellen. Oder man lese diesen Anfang einer Xenie Schillers: ,Selten erhaben und groß und selten würdig der Liebe' , — Wie heißt wohl dieser Ausbund der Menschheit? — ,Lebt er doch immer, der Mensch, und wird geehrt und geliebt.' — Ach so war's gemeint: ,selten' bedeutet hier eben ,selten' , nicht ,außerordentlich' , und auch hier muß der Leser des zweiten Verses das Gefühlsergebnis der ersten vernichten oder umkehren. Nein, es ist doch am besten, wir schreiben ,selten' nur da, wo man ,vereinzelt' meint, um so mehr als wir durch das Meiden jeder andern Anwendung nie in Verlegenheit kommen können. Schreiben wir statt ,ein selten schönes Mädchen' —: ,ein Mädchen von seltner Schönheit' , so fällt der leiseste Grund des Mißverstehens oder der Lächerlichkeit weg, und wir werden unzweifelhaft richtig verstanden.


Zweifelsfall

Lexikalische Ambiguität

Beispiel
Bezugsinstanz Zeitungssprache, Schiller - Friedrich
Bewertung

sehr gefährlich, leidige Zweideutigkeit, falsch, lächerlich, Anstößigkeit

Intertextueller Bezug Wilhelm Fischer: Die deutsche Sprache von heute (Leipzig, Teubner)