Das Zeitwort 2. Die Zeiten *2

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Buch Engel (1922): Gutes Deutsch. Ein Führer durch Falsch und Richtig.
Seitenzahlen 286 - 287

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Unsicherheit

In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle

Behandelter Zweifelfall:

Konjunktiv I, Konjunktiv II oder würde-Form

Genannte Bezugsinstanzen: Alt, Goethe - Johann Wolfgang, Lessing - Gotthold Ephraim, Gesprochene Sprache, Schiller - Friedrich, Frankreich, Latein, Umgangssprache
Text

Im Lateinischen und Französischen, zwei starrgefügten Sprachen, herrscht ein Gesetz der Zeitenfolge, das für Nebensätze Übereinstimmung der Grundzeiten mit denen des Hauptsatzes vorschreibt. Auf eine Vergangenheitsform des Hauptsatzes muß eine im Nebensatz folgen. Auch hierin zeigt das Deutsche größere Beweglichkeit, gepaart mit einer der Wirklichkeit näher kommenden Sprachphantasie. Im Lateinischen und Französischen muß es heißen: ,Er sagte ihm, er wäre (war) mit ihm sehr unzufrieden.' So kann das Deutsche auch sagen, und das wäre nicht falsch; nahezu Regel aber ist in solchen Fällen die Gegenwart des Nebensatzes geworden: ,Er sagte ihm, er sei ..' Die älteren Sprachmeister, die fast alle vom Lateinischen ausgingen, forderten fürs Deutsche dieselbe Zeitenfolge wie fürs Latein, und Schopenhauer schloß sich ihnen an. Eine beliebige Prosaseite Lessings, Goethes, Schillers hätte ihnen allen zeigen können, daß die vielgerühmte lateinische ,Consecutio temporum' (Zeitenfolge) ein enger Eisenpanzer sei (nicht: wäre!), worunter der Atem des deutschen Satzes stocken müsse. Während das Lateinische blindlings den Inhalt jedes abhängigen Satzes in die Zeit des Hauptsatzes verlegt, begabt das Deutsche seine Nebensätze mit der Zeitform, die ihrer lebendigen Zeitvorstellung entspricht. ,Bismarck erklärte Benedetti, er sei entschlossen, im äußersten Falle ..' Man übersetze den abhängigen (indirekten) Nebensatz mit seiner mittelbaren Beugeform in einen selbständigen (direkten) Satz, so lautet er: ,Ich bin entschlossen' , und hieraus wird in der nichtwörtlichen Wiedergabe: er sei .. Offenbar ist diese Zeitenfolge die natürlichere, die lebensvollere, und es ist nur ein Zeichen gefunden und scharfen Sprachgefühls — nicht, wie der Büttel auch bei dieser Gelegenheit schimpft, der ,Abstumpfung' —, daß das Deutsche mehr und mehr die Sei-Formen der Gegenwart denen der 1. Vergangenheit vorzieht. In dem obigen Beispiel ist zweifellos eine gedachte Gegenwart der Zeitboden, worauf der Nebensatz ruht, nämlich die damalige Gegenwart, in die wir durch die 1. Vergangenheit des erzählenden Hauptsatzes zurückversetzt werden. Diese Zurückversetzungskraft mangelt dem Sprach- $Seite 287$ geist des Lateinischen und Französischen. Nur da, wo eine Sei-Form der Gegenwart nicht von der Bin-Form zu unterscheiden ist, muß im guten Deutsch die Sei-Form der 1. Vergangenheit stehen, und dies wird in der guten Rede- und Umgangsprache auch meist beachtet. Selbst in Fällen, wo schon ein Nebensatz mit Sei-Form der Gegenwart vorausgegangen, folgt in einem zweiten Nebensatz die Sei-Form der 1. Vergangenheit, wenn sonst die Sei-Form mit der Bin-Form zusammenfiele: ,Er fragte mich, ob ich nicht wisse, wer er sei, und warum ich ihm denn nicht hülfe.' In diesen Fällen wird die Sei-Form der 1. Vergangenheit durchaus als eine Gegenwartsform empfunden.

Scan
Engel(1922) 286-287.pdf


Zweifelsfall

Konjunktiv I, Konjunktiv II oder würde-Form

Beispiel
Bezugsinstanz Latein, Frankreich, Alt, Lessing - Gotthold Ephraim, Goethe - Johann Wolfgang, Schiller - Friedrich, Gesprochene Sprache, Umgangssprache
Bewertung

starrgefügt, größere Beweglichkeit, Sprachphantasie, ein enger Eisenpanzer, blindlings, lebendig, die natürlichere, die lebensvollere, scharf, zweifellos

Intertextueller Bezug Schopenhauer