Satzgefüge und Satzbau 1. Haupt- und Geschlechtswort *2

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Buch Engel (1922): Gutes Deutsch. Ein Führer durch Falsch und Richtig.
Seitenzahlen 245 - 249

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Unsicherheit
Text

In den starreren romanischen Sprachen ist die ,Fügung nach dem Sinne', wozu auch die des natürlichen Geschlechts vor dem sprachlichen gehört, ganz allgemein seltner als im Deutschen. Dieses gestattet in den Grenzen der Ordnung viel mehr Freiheiten als z. B. das Französische in der Fügung des Hauptwortes in der Einzahl mit dem Zeitwort in der Einzahl $Seite 246$ oder der Mehrzahl und vermag daher durch das einfache Mittel der Wahl zwischen beiden feine Unterschiede zwischen innerer Einheit und Vielheit auszudrücken. Fügung nach dem Sinn will sagen: Sieg der sinnvollen Zweckmäßigkeit über die, im allgemeinen nützliche und notwendige, aber im einzelnen Fall allzu starre Regel. Die deutsche Sprache stellt hier wie fast überall größere Förderungen an die selbständige geistige Mitarbeit des Schreibers. Schon beim Bindewort und wurden einige Beispiele erörtert (S. 193); hier folgen noch ein paar zur Erläuterung feinerer Stilabsichten.

,Der Staat und die Gesellschaft stellen Anforderungen an uns, die ..' Was ist richtiger: stellen oder stellt? Richtig ist beides, je nachdem Staat und Gesellschaft mit ihren Anforderungen als eine Einheit aufgefaßt werden oder nicht. Bei stellt wird der Leser gezwungen, jedes für sich zu ergänzen; bei stellen ist dies nicht nötig. ,Es sollte Meer und Land nicht Einem dienen' (Schiller) — mit feiner Absicht Einzahl: sie wirkt, als eine allumspannende Einheit des Besitzes, dichterisch stärker als die verschwimmende Mehrzahl. Ebenso ,Groll und Rache sei vergessen!' (Schiller). ,Schmuck und Geschmeide sind nicht mein' (Gretchen im Faust). Sollen beide Hauptwörter nicht als bloß zwei statt eines gelten, so mußten sie (,ein Kettchen, die Perle' ) mit der Mehrzahl sind gefügt werden. — In ,Salz und Brot macht Wangen rot' faßt das Sprichwort zwei sich ergänzende Speisen zu einem Gericht zusammen, daher mit Recht Einzahl. Ebenso in: ,Versprechen und Halten steht fein bei Jungen und Alten' — jedes der zwei Zeitwörter für sich bedeutet nichts, erst ihre Einheit ist etwas wert. ,Lust und Liebe' bilden zwar auch eine Einheit, dennoch: ,Luft und Liebe sind die Fittiche zu großen Taten' , aber nur, weil die Fittiche paarweis gedacht werden müssen. In Prosa dürfte man gar wohl fügen: ,Lust und Liebe ist der Hebel ..' ,Hier ist nur Lug und Trug' — die Einzahl erscheint selbstverständlich, denn Lug und Trug sind (oder ist!) fast dasselbe. Ebenso in: ,Eines Menschen Tun und Wesen ist auf seiner Stirn zu lesen' . Tun und Wesen ist (sind!) zwar nicht ganz gleich, bilden aber eine unlösliche Einheit. Die Mehrzahl in solchen Fällen wäre nicht gradezu ,falsch', wenigstens rein sprachlich nicht; aber notdürftige Sprachrichtigkeit ist noch lange nicht die höchste Tugend eines Schreibers. ,Der Herbst, die $Seite 247$ Jagd, der Markt ist nicht mehr mein' (Schillers ,Teilung der Welt'): Zeus zählt auf, was er nacheinander, einzeln weggegeben hat; die Einzahl ist eine auserlesene künstlerische Feinheit. ,Der Neidische, der Hämische, der Ränkesüchtige, der Verhetzer ist der wahre Grobe' (Lessing) — ein ähnlicher Fall der Betrachtung des Einen nach dem Andern, und da sich Lessing dagegen wehrte, daß man ihn wegen seiner rücksichtslosen Wahrheitsliebe einen Groben schölte, so war der Grobe geboten. Sind wäre selbst hiermit vereinbar, doch will Lessing jedem Lumpen einzeln seinen gebührenden Namen geben, also — ist. Hingegen stellen ,Liebe und Trompetenblasen' nur in seltensten Ausnahmen eine solche Einheit dar wie in Scheffels Trompeter von Säckingen, weshalb der Dichter mit Fug gefügt hat: ,Nützen zu viel guten Dingen' .

Fast alles, was für Verbindungen mit und gilt, ist sinngemäß anwendbar auf andre Bindewörter: weder .. noch, sowohl (nicht nur) .. als (sondern) auch, teils .. teils, .. wie. ,Weder Goethe noch Schiller hat (oder: haben) sich diese Freiheit erlaubt. Weder der Kaiser noch der Kanzler kann (oder: können) das verhindern' — keiner allein, auch beide zusammenwirkend nicht. Weder .. noch trennen hier nur äußerlich; in Wahrheit bilden sie die Einheit eines Tuns, das in verneinende Form gekleidet ist. Wenn solche jedem Sprecher und Schreiber geläufige und erlaubte Fügung, die sich mit Hunderten von Beispielen unsrer alten wie neuen Klassiker belegen läßt, ,eins der unverkennbarsten Zeichen der zunehmenden Unklarheit des Denkens' und ,unsinnig' geschimpft wird, so braucht keinem gesagt zu werden, für welche Sprachauffassung und Geistesart solch Urteil ein unzweifelhaftes Beweisstück ist.

Stehen Einzahl und Mehrzahl nebeneinander, so bekommt die Aussage natürlich die Mehrzahl: ,Der Kaiser und die Bundesfürsten ernennen die Mitglieder des Bundesrats.' Dies gilt auch da, wo die Einzahl zuletzt steht: ,Die Bundesfürsten und der Kaiser ernennen ..' Will man die geringe Härte der unmittelbaren Berührung der Einzahl des Hauptwortes mit dem Zeitwort in der Mehrzahl vermeiden, so muß man umstellen; eine Notwendigkeit besteht nicht. Goethe schreibt: ,Oranien zauderte und alle seine Freunde.' Auch solche Freiheit ist erlaubt, zumal in der lebendigen Rede einer Dichtung.

$Seite 248$ Bei Goethe steht auch einmal: ,Er mit seiner Umgebung waren sehr laut.' Dies mag etwas gewagt klingen, falsch ist es nicht. Bei Ausdrücken in Einzahlform, die eine Mehrheit, Menge, Masse, Reihe, Anzahl, Sammlung usw. bezeichnen, darf die Aussage auch in der Mehrzahl stehen. ,Da saßen, standen oder lagen eine Menge gemeiner Kerle ..' (Seume) — vollkommen richtig. ,Eine lange Reihe von Künstlernamen, die einst .., sind jetzt verklungen' — ganz in der Ordnung. ,Eine Anzahl Menschen steht (oder stehen) vor der Tür' — beides richtig, sogar gleichrichtig. Aber die Sprache erlaubt sich nicht so leicht, zu fügen: ,Hier liegen ein Paar Stiefel' , denn dies könnte verwechselt werden mit dem nicht gleichbedeutenden ,.. ein paar Stiefel' . Handelt sich's nicht genau um ein Paar, so muß die Mehrzahlform der Aussage stehen: ,Draußen stehen ein paar Menschen.' Ferner: ,In dem Korbe liegt (oder: liegen) ein Schock Eier. — Fast ein Dutzend Käufer war (oder: waren) erschienen.'

Die Fügung nach dem Sinne fordert sogar unter Umständen nach nichts mit einem Zusatz in der Mehrzahl die Mehrzahl der Aussage; ,Nichts als Dummheiten werden hier gemacht' , wo wird sehr hart klingen würde.

Zweifel bestehen über die richtige Fügung nach Verbindungen wie ich und du, du und er, wir und er usw. Eine ganz nette Papierregel lautet zwar: die Fügung richtet sich nach der 1. Person vor der 2., nach der 2. vor der 3.; doch sind die hiernach gebauten Sätze oft ungenießbar. Wie steht es z. B. mit diesem Falle: ,Du oder ich müssen sterben —' ? ,Er, nicht ich habe das getan —' ? In der Umgangsprache geht dies wie manches andre hin; die gute Schriftsprache fordert andre Fügungen, an denen es ja nicht fehlt, z. B.: ,Du mußt sterben, oder ich. — Er hat das getan, nicht ich.' Oder man bezeichne die Verbindung durch ein wiederholendes Fürwort der Mehrzahl: ,du oder ich — wir müssen sterben' (oder umgekehrt: ,Wir müssen sterben, du oder ich' ); oder auch: ,Einer von uns beiden' usw. Es läßt sich keine noch so unbequeme, noch so harte Fügung erdenken, wofür die deutsche Sprache eines trefflichen Heilmittels entbehrte.

In älteren Zeiten der Sprache besaß (!, vgl. S. 223 zu ,besitzen' ) das Deutsche noch viel weitergehende Freiheiten in hauptwörtlichen Verbindungen. Luther durfte, wie alle Welt $Seite 249$ damals, kurz und sehr gut schreiben: ,samt der Seele und Leibe' , und sich darauf verlassen, daß der Leser aus der das zu Leibe passende richtige Geschlechtswort mit herausläse. So schrieb noch Goethe, und nicht im Verse: ,gleichen Wuchses und Würde, ihre Gestalt und Wesen' ; Schiller: ,mit meinem Wissen und Erlaubnis' . Wer's wagen darf, d. h. der überragende Schreiber, dessen Ausübung zugleich Lehre ist, der wage das; dem Durchschnittschreiber ist davon abzuraten, weil man, nicht ohne Grund, seine Berufung auf Luther, Goethe, Schiller nicht gelten lassen würde.


Zweifelsfall

Kongruenz: Numerus

Beispiel
Bezugsinstanz Romanische Sprachen, Frankreich, Schriftsprache, Gehobene Sprache, Schiller - Friedrich, Goethe - Johann Wolfgang, Redewendung/Sprichwort, Lessing - Gotthold Ephraim, Gesprochene Sprache, Umgangssprache, Schreiber guten Stils, Alt, Luther - Martin
Bewertung

starr, seltner, fein, mit Fug, geringe Härte, etwas gewagt, falsch ist es nicht, sehr hart, ganz nette Papierregel, oft ungenießbar, keine noch so unbequeme, noch so harte Fügung, kurz und sehr gut

Intertextueller Bezug