Wortschatz und Wortform *5

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Buch Engel (1922): Gutes Deutsch. Ein Führer durch Falsch und Richtig.
Seitenzahlen 58 - 64

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Unsicherheit
Text

Man kann sich des immer wiederholten Aufsteigens des Vergleiches mit Beckmesser nicht erwehren:

Auf ,blinde Meinung' klag' ich allein,

Sagt, konnt' ein Sinn unsinniger sein? ...

Singet dem Volk auf Markt und Gassen;

Hier wird nach den Regeln nur eingelassen.

Es gibt keine Regel, wie die Beckmesser Gottsched, Adelung, Wustmann sie aufpflanzen wollten: Wo für einen Begriff schon ein gutes Wort vorhanden ist, da bedarf es keiner Abwechslung. Das ewig bewegliche Sprachbedürfnis und Sprachgefühl fordert und schafft sich ewig neue Befriedigung, $Seite 59$ und dessen wollen wir froh sein. Und wäre es selbst so, daß ein Neuwort für die bloße Verständigung überflüssig wäre, — der Sprachsinn eines lebenden Volkes steht unter dem beherrschenden Geistesgesetz der Ermüdung und des Wechsels, strebt unablässig nach Bereicherung des reichsten Wortschatzes und sieht in jedem neuen Wort eine neue Bedeutungs- und Gefühlsfarbe. Ja schon in dem verschiedenen Klange an sich schwebt neben dem sinnlichen Neureiz jedesmal ein neuer Empfindungswert mit. Die von den Beckmessern benörgelte Eingebildetheit ist nicht dasselbe wie die von ihnen einzig zugelassene Einbildung; das Wissen ist nicht gleich der Kenntnis, das Können hat seine berechtigte Geltung neben der Kunst, das Wollen neben dem Willen. Man hat z. B. bekrittelt: ,ein am Markte belegenes Haus' , hat verlangt ,gelegenes' ; aber der geschärfte Sprachsinn empfindet nicht als überflüssige Wiederholung, sondern als fein unterscheidend: ,ein am Markt belegenes, schön gelegenes Haus' .

Wer dem Deutschen jedes Neuwort mit billigem Spott verleidet, der versündigt sich am guten Geist grade unsrer Sprache, die in und von der vernünftigen Freiheit lebt. Klopstocks Wort:

Weil ich die bildsamste bin von allen Sprachen, so träumet Jeder pfuschende Wager, er dürfe getrost mich gestalten, Wie es ihn lüste?

bleibe in Ehren, denn freilich ist die Sprache nicht jedem einzelnen Stümper preisgegeben. Bei den oben aufgeführten Wörtern jedoch handelt es sich längst nicht mehr um dreiste Wagnisse eines Einzelnen, sondern um Bestandteile der Umgangs- und Schriftsprache der Gebildetsten und der Besten ihres Faches, und da bestreiten wir dem bloßen Merker jedes Recht, einem ganzen Volk tiefwurzelnde Gebilde seines Sprachschatzes zu begeifern und zu verekeln. Selbst große Kühnheiten der Neuschöpfung müssen ohne Voreingenommenheit geprüft werden. Alle Spracherfahrung beweist, daß jede gute Neubildung sich allem Tadel zum Trotz durchgesetzt und bald wertvoller Besitz geworden ist; daß aber auch die schlechtesten Neubildungen kein Unglück für die Sprache sind, denn sie lehnt sie ab, und an der Ablehnung, nur an ihr, erkennt eben die Sprachwissenschaft, daß die neuen Wortformen unbrauchbar waren. Gottsched tadelte kaumig (von kaum), $Seite 60$ und die Zeit hat ihm Recht gegeben; aber er tadelte auch sonstig, und von der Zeit hat er Unrecht bekommen. Ein lehrreiches Beispiel für die geheimnisvollen Gesetze, die über neuen Wortschöpfungen walten, ist Gemeinplatz (statt der einstmaligen Lateinerei Locus communis). Goethe und Schiller hatten es mit Gemeinort versucht, waren aber trotz ihren einflußreichen Namen damit nicht durchgedrungen. Campe übersetzte die englische Übersetzung Common place wörtlich mit Gemeinplatz, und diese auf den ersten Blick und Klang rohe Übersetzung hat den Sieg davongetragen über Goethes und Schillers Verdeutschungsversuche. Heute erscheinen Gemeinplatz und gemeinplätzlich vortrefflich, Goethes und Schillers Gemeinort klingt uns flach und flau.

Einen andern Maßstab als den Erfolg gibt es nicht, und noch so scheinkluges Vernünfteln beweist in Fragen dieser Art gar nichts. Wie verständig klingt z. B. Wustmanns Auseinandersetzung: ,Die ... Forderung, die man an ein neu aufkommendes Wort stellen darf, ist die, daß es regelrecht, gesetzmäßig gebildet sei und daß es mit einleuchtender Deutlichkeit wirklich das ausdrücke, was es auszudrücken vorgibt.' Alles nichts als hohles Gerede, dem das deutsche Wörterbuch in unzähligen Fällen widerspricht. Die Sprache fragt nicht nach dem Regelrecht, nach der Gesetzmäßigkeit irgendeines Zuchtmeisters, sondern sie lebt und schafft aus eignem Recht und Gesetz. Besonders lehrreich ist die geschwätzige Verwerfung des ,Schriftleiters' statt des ,Redakteurs' durch Wustmann, der überhaupt jeder Anklang findenden Verdeutschung das nichtssagendste, ja das sprachlich falscheste Welschwort vorzieht. ,Unter Schrift kann dreierlei verstanden werden: die Handschrift, ein Schriftstück und die Lettern der Druckerei...' Folgt eine wohlweise Betrachtung, daß an die erste und dritte Bedeutung nicht zu denken, daß nur die Behandlung der Schriftstücke gemeint sei, und die ,stellen wir uns wohl bei dem Worte Redakteur vor (?), aber nicht bei dem mühselig ausgeklügelten Worte Schriftleiter.' An die vierte Bedeutung ,Schriftwesen' hatte Wustmann nicht gedacht. Daß der großartige ,Redakteur' nur etwa Ordner, Herrichter bedeutet, nichts vom Leiter enthält, durfte ihm nicht einfallen, weil das fremde Wort durchaus verteidigt, das deutsche unbedingt bemakelt werden sollte. Und daß wir uns bei ,Redakteur' nur 'etwas vorstellen' , was nicht notwendig in dem $Seite 61$ Worte selbst steckt, daß wir uns also bei ,Schriftleiter' nur ebenso etwas vorzustellen brauchen, wovon doch alles Wichtigste in dem Wort enthalten ist, wird verschwiegen. Aber die Hauptsache ist: Schriftleitung und Schriftleiter sind jetzt feste Rahmensprache der meisten deutschen Zeitungen geworden, gleichwie die ebenfalls von Wustmann verworfene ,Geschäftsstelle' , der er die schwammwörtliche ,Expedition' vorzog. Und zuletzt das Allerbeste: wie steht es mit dem ,Schriftsteller' ? Stellt der etwa Schrift? Folgt der irgendeiner Regel und einem Gesetz? Drückt der mit einleuchtender Deutlichkeit wirklich das aus, was er auszudrücken vorgibt? Man denke sich aus, welche Flut von höhnischen Schimpfereien Wustmann über den ,Schriststeller' ergossen haben würde, wenn der nicht seinen Kampf gegen die Verteidiger des ,Autors' schon im 18. Jahrhundert siegreich bestanden hätte.

Und wie mit dem Schriftleiter und dem Schriftsteller, wie mit den Dutzenden von bemakelten Neuwörtern, die jetzt zum festen Wortbesitz unsrer Sprache gehören, steht es mit Hunderten von Ausdrücken, die noch viel weniger mit einleuchtender Deutlichkeit das ausdrücken, was sie auszudrücken vorgeben. Ich berufe mich auf das in meinem ,Sprich Deutsch' auf S. 230—235 über ,Gut und Ungut des Deutschen' Gesagte und frage nur kurz, wie es mit der Regel und dem Gesetz von Wörtern steht wie: Mundart (Art des Mundes?), Eisbein (Bein von Eis? Bein auf Eis? Bein mit Eis?), Besteck, Augapfel, Perlmutter, Schraubenmutter, Backfisch, Schildwache, Leitfaden, Schneider (schneidet er nur?), Tischler (macht er nur Tische? und wie denkt man über Sargtischler?), Grasmücke, Wasserhahn, Konzertflügel, Baumwolle, Leichdorn, Leinwand, Beispiel, Backpfeife, Katzenkopf, Ohrfeige, Weichbild, Hagestolz? Der Seufzer ist kein Seufzer, sondern ein Geseufzter; der Läufer auf der Treppe kein Läufer, sondern ein Belaufener. Was für ein Span ist Grünspan? Gar kein Span, sondern spanisches Grün. Man stelle sich vor, alle diese Wörter, und es gibt ihrer Hunderte, hätten sich ihr Daseinsrecht von den Sprachmeistern erbitten müssen!

Die durch und durch beschränkte, philisterhafte Bekämpfung des rastlos neuschöpferischen Triebes unsrer Sprache birgt noch eine andre ernste Gefahr: sie dient zur Verewigung der Welscherei. Nie hat Wustmann ein Körnchen seines erquälten Witzes, einen Tropfen seiner Kübel voll Schimpfereien über $Seite62$ die besten Neubildungen benutzt, um ein noch so blödes Welschwort zu verdrängen, wie denn in Deutschland fast nur über deutsches Sprachgut gewitzelt und geschimpft, jedes noch so gemeine Fremdwort mit Aufgebot höchsten Scharfsinns gerechtfertigt wird. An ,allfallsig' haben die Sprachmeisterer ihren Spott gekühlt; keiner hat etwas gegen ,eventuell' vorgebracht. Gegen die gutgebildete Auskunftei — die sich trotz allem längst durchgesetzt hat —, erhebt Wustmann Klage mit ,Schande' und andern Schimpfwörtern; gegen das Informationsbüreau hat er nichts einzuwenden. Entsetzt ruft er aus: ,Man könnte ebensogut die Kopierstube im Amtsgericht die Abschriftei nennen.' Und wenn man's täte?!

Kein Leser ist verpflichtet, jede frische Neubildung sogleich selbst zu verwenden; im Gegenteil sei ihm geraten, abzuwarten, wie sie sich im Kampfe mit Philistertum und Welscherei durchsetzt; man lasse sich aber brauchbare Neuwörter, die einem Bedürfnis abhelfen, gut deutsch klingen und bequem sind, nicht durch ödes Gespött verleiden. Mehr als die Hälfte des ganzen neuhochdeutschen Wortschatzes war einmal nagelneu, und wehe jeder Sprache, über welche die dem sprießenden Sprachleben feindlichen Regelschmiede und Zuchtmeister Gewalt bekämen.

Mit der oberflächlichen Krittelei ,Modewort' ist nicht alles abzutun, was nicht schon seit hundert Jahren in unsrer Sprache lebt. Zum Modewort gehört der Begriff des Überwucherns und der Abgedroschenheit. ,Neuorientierung' ist ein elendes Modewort aus mehr als einem Grunde; ,Darbietung' , das Wustmann dafür erklärt, ist keins. Daß es schon im 17. Jahrhundert vorkommt, braucht ein berufsmäßiger Nörgler des 19. nicht zu wissen.

Andre als Wustmann haben Neubildungen wie ,Wissenschafter, Genossenschafter, Draufgänger, Wichtigtuer, Volksparteiler' verdammt, und Wustmann, der nie fehlt, wo deutsche Versuche zur Neuschöpfung benörgelt werden, fragt: ,wie manche Leute so geschmacklos sein können, von Neusprachlern und Naturwissenschaftlern zu reden', also einen andern Geschmack zu haben als er? Niemand wird im hohen Stil Wissenschafter und Naturwissenschaftler schreiben; auch für Neusprachler wird man da eine andre Wendung suchen und finden. Solche Formen aber der bequemen, selbst der wissenschaftlichen Darstellung ganz zu verbieten, hieße ihr unnütze $Seite 63$ Schwierigkeiten machen. In jenen Bildungen liegt ebensowenig etwas ,Geringschätziges', wie nach Wustmann in ,Radler' und ,Sommerfrischler' stecken soll.

Ähnlich steht es um das seit mehr als vierzig Jahren bräuchliche, sich immer fester einbürgernde untadlig gebildete ,völkisch' , das mit vollem Recht das ein jedes vaterländische Feingefühl verletzende national zu verdrängen bestimmt und geeignet ist, es auch mit der Zeit gewiß ganz verdrängen wird. Man denke: zur Bezeichnung der deutschen Zugehörigkeit und Gesinnung ein Welschwort aus verstümmeltem Küchenlatein! Es ist ein ebenso schreiender innerer Widerspruch wie Patriotismus für Vaterlandsliebe, Germanisierung für Eindeutschung. Daß Wustmann sich nicht an ,völkisch' gerieben hat, wie sich bei ihm von selbst verstände, rührt nur daher, daß er die Einbürgerung des deutschen Wortes nicht mehr erlebt hat. Statt seiner hat der Germanist Gustav Roethe, der eifrige Bekämpfer des Germanentums in der deutschen Sprache, der Verteidiger und Handhaber des wildesten Welsch, z. B. des ,ethischen Pathos' der Helden deutscher Sage, der ,Atomisierung der Nation durch die Interessenpolitik des Territoriums' , sich einen Platz in der deutschen Sprachgeschichte gesichert durch seinen Angriff auf das Wort ,völkisch' — in einer Rede auf Bismarck! — und durch dessen Begründung, ganz nach Wustmanns Art, mit dem Herabziehen, dem Entstellen, das zumeist in der Endung isch liege. Jeder deutsche Schüler kann den welschfrohen Germanisten belehren, daß es eine genügend große Zahl deutscher Wörter auf isch mit edler oder harmloser Bedeutung gibt, um völkisch vollauf zu rechtfertigen: seelisch, himmlisch, heldisch, irdisch (unterirdisch, überirdisch), landsmännisch, waidmännisch, kaufmännisch, seemännisch, festländisch, vaterländisch, inländisch, ausländisch, binnenländisch, überseeisch, städtisch, ständisch, höfisch (davon hübsch), künstlerisch, dichterisch, malerisch, bildnerisch, erzieherisch; dazu Dutzende von Länder- und Völkernamen, darunter — deutsch, das aus deutisch (althochdeutsch: diutisk, diotisk = völkisch) entstanden ist. Nun gar die Dutzende von vornehmen Welschwörtern auf isch: philologisch, germanistisch, poetisch, lyrisch, dramatisch, tragisch, komisch, kritisch, psychisch, physisch, chemisch, ästhetisch usw. Eine Zeit wird kommen, wo kein Mensch begreifen wird, daß gegen ,völkisch' jemals ein Wort gewagt werden konnte; für die Menschen jener Zeit sei der $Seite 64$ Name Gustav Roethe als der des Bekämpfers eines gradezu selbstverständlichen edlen deutschen Wortes hier aufbewahrt. Mehr wird ja keiner alsdann von ihm wissen.

Aus allem Vorangehenden soll nicht folgen, daß jeder beliebige Einfall eines untergeordneten Einzelschreibers Anspruch auf liebevolle Beachtung hat. Wer z. B. schulisch wagt, tut dies auf eigne Verantwortung. Entscheidend aber ist selbst in solchem Falle nicht, ob es von dem oder jenem häßlich gefunden wird — manchen scheint es ja zu gefallen —, sondern ob es sich durchsetzt, d. h. sich in den Sprachgebrauch der Gebildeten einfügt. Ganz unmöglich ist das nicht; und soll durchaus immer von Geschmack geredet werden, so scheue ich mich nicht auszusprechen, daß mir ein reindeutsches Wort schulisch besser gefällt, als das aus Griechisch und Deutsch zusammengeklebte pädagogisch. Es besteht aber keinerlei Nötigung zu schulisch: schulische Fragen sind Schulfragen, schulische Gesichtspunkte sind Gesichtspunkte der Schule. Hingegen widerstrebt mir das rechtsanwaltliche beklagtisch durchaus; aber es besteht auch keine Gefahr seines Eindringens in die gebildete Sprache.

Am guten Alten

In Treuen halten;

Am kräftigen Neuen

Sich stärken und freuen,

Wird niemand gereuen. (Goethe.)

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Beispiel
Bezugsinstanz Gottsched - Johann Christoph, Adelung - Johann Christoph, Wustmann - Gustav, Volk, Klopstock - Friedrich Gottlieb, Umgangssprache, Schriftsprache, Gebildete, Goethe - Johann Wolfgang, Schiller - Friedrich, Campe - Joachim Heinrich, 18. Jahrhundert, 17. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Roethe - Gustav
Bewertung

gutes Wort, berechtigte Geltung, überflüssige Wiederholung, fein unterscheidend, billiger Spott, Stümper, dreiste Wagnisse, beschränkte, philisterhafte Bekämpfung, untadlig gebildet

Intertextueller Bezug Gottsched, Adelung, Wustmann, Engel: Sprich Deutsch, S. 230 - 235, Gustav Roethe