Wortschatz und Wortform *9
Hinweis: Dieses Kapitel ist derzeit noch in Bearbeitung. Die angezeigten Informationen könnten daher fehlerhaft oder unvollständig sein.
Buch | Engel (1922): Gutes Deutsch. Ein Führer durch Falsch und Richtig. |
---|---|
Seitenzahlen | 70 - 74 |
Nur für eingeloggte User:
Unsicherheit |
---|
In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle
Text |
---|
Deutsch ist die neubildungsfähigste aller Sprachen schon durch die fast unbegrenzte Möglichkeit neuer Zusammensetzungen, besonders von Hauptwörtern. Grimms Wörterbuch mit seinen 730 Verbindungen mit Land, über 600 mit Hand, 510 mit Geist, 615 mit Krieg ist unvollständig; die nur 287 mit Liebe zusammengesetzten Wörter wurden von andern Sammlern um mehr als 600 bereichert. Zusammensetzungen mit Kunst führt es 613 auf, doch fehlen z. B. Kunstwein, Kunstwolle, Kunsthonig, Kunstbutter und mehr als hundert ähnliche. Zu beklagen ist, daß Trieb und Bedürfnis zu Neuschöpfungen sich fast ausschließlich am Zusammensetzen befriedigen müssen: die stete Angst vor der Sprachschulmeisterei hat den Wagemut zur hauptwörtlichen Neubildung aus Zeitwortstämmen unterdrückt und den Schöpfertrieb auf das Fremdwort abirren lassen. Ohne die Furcht, mit ,Trieber, Krafter, Liege, Grolle, Umrichte, Sprenge' von den Bekrittlern jedes deutschen Neuwortes verhöhnt zu werden, hätte man nicht von vornherein zu Motor, Automobil, Chaiselongue, Fronde, Neuorientierung, Explosion gegriffen als den in Deutschland selbstverständlichen welschen Bezeichnungen für neue Dinge. $Seite 71$ Die Schrankenlosigkeit im Zusammensetzen von Hauptwörtern verführt zu ungefügen Mißbildungen. Zu den früheren Beispielen noch einige: Kyffhäusergeschenkartikelhalle, Stiftungsadministrationskontrolloffiziant, Kesselsteinverhinderungsmittelerzeugungsgesellschaft. Schlecht sind überflüssig umständliche Bildungen wie Kleinkinderbewahranstalt. Gewagt, aber nicht unbedingt verwerflich, ist eine Zusammensetzung wie die Losvonrombewegung als bequemes Schlag- und Zeitungswort. Regeln über die zulässige Länge von Zusammensetzungen lassen sich nicht geben; soviel Geschmack, wie zur Vermeidung der ärgsten Wortungetüme nötig, ist jedem verständigen Leser selbst zuzutrauen. Er halte sich in bedenklichen Fällen nur vor: Lieber zu kurz als zu lang, denn die Zusammenleimerei ist ja keine vorgeschriebene Pflicht. Dampfstraßenbahn wird als gut, oder doch erträglich empfunden; Dampfstraßenbahngesellschaft ist schon Papier-, nicht Redesprache. Mehr als drei Glieder einer Wortgruppe werden meist als Überlänge wirken. Wie vorsichtig man mit jeder Schulmeisterei grade gegenüber dem Zusammensetzungstrieb im Deutschen sein muß, lehrt die Gruppe mit Rück-: das Grimmsche Wörterbuch führt 85 Neubildungen allein fürs 19. Jahrhundert auf, darunter Rückblick, Rückhalt, Rückwirkung, Rückschlag, Rückschluß. Die drei letzten wurden von Wustmann als ,Modewörter' verworfen, was ihnen nichts geschadet hat. Manche Zweifel entstehen nur dadurch, daß man nicht einfach dem allbekannten Sprachgebrauche folgt, sondern ihm zuwider vernünftelt. Man hat nie etwas andres gehört als: ,Rechenheft, Zeichenbuch, Zeichenlehre' , — so schreibe man auch so und schlimmbessre nicht. Rechen .., Zeichen.. sind die verkürzten Zeitwortstämme (statt des eigentlichen Rechenen, Zeichenen), so wie Schreibheft die Verkürzung von Schreibenheft, Reitlehrer die von Reitenlehrer ist. Darum auch Gefangenwärter, Gefangenanstalt, Gefangenlager, nicht Gefangenen- . Das erste Glied einer Wortverbindung braucht nicht immer in der Mehrzahl zu stehen, sondern die Einzahl bezeichnet die ganze Gattung: Buchwart ist genügend und besser als Bücherwart, so wie der Buchhändler genügt, um mit mehr als einem Buch zu handeln. Ein Bücherhändler wäre einer, der nicht berufsmäßig, sondern gelegentlich Bücher verkauft. Darum nicht Äpfelbaum, sondern Apfelbaum; $Seite 72$ nicht Nadelnholz, sondern Nadelholz; nicht Länderkarten, sondern Landkarten. Die Abweichung in Gänsehals, Scheibenschießen, Taschentuch, Küchentür, Leichenpredigt, Tintenfaß, Sonnenschein, Erdenluft usw. ist nur scheinbar: Gänse, Scheiben, Taschen, Küchen, Leichen, Tinten, Sonnen, Erden sind Reste altdeutscher Einzahlformen im 2. Fall. Jahrzehnte hindurch hat es Speisekarte geheißen, wo dies nicht für zu gemein, weil nur deutsch galt, also Menü gesagt werden mußte. Da begann die Vernünftelei: auf der Karte stehen ja Speisen, nicht eine Speise, und man druckte Speisenkarte. Also etwa Tänzekarte statt Tanzkarte? Auch hier handelt es sich um mehr als einen Tanz. Man bleibe bei Speisekarte, denn es ist die Karte fürs Speisen und gehört zu derselben Wortbildungsgruppe wie der Speisesaal, der Speiseschrank, der Speisewagen. Es wäre schade, wenn die falsche Vernünftelei über den richtigen Sprachgebrauch siegte. Wustmann — immer wieder muß man die freie Sprache gegen ihren ärgsten Vergewaltiger verteidigen — Wustmann nennt Zusammensetzungen wie Muldetal, Pleißeufer, Rassepferd, Rassehund eine ,traurige Verirrung' und rasaunt mit einer kaum begreiflichen Überhebung: ,Wer nicht fühlt, daß das alles das bare Gestammel ist, der ist aufrichtig zu bedauern. Es klingt genau, wie wenn kleine Kinder dahlten, die erst reden lernen.' Das liest der unselbständige Sprachschüler, schämt sich und schreibt fortan Rassenpferd, Rassenhund, Rassenweib, weil ein mürrischer Sprachgärtner mit der großen Heckenschere an allem Freiwuchs entlangstelzt und jeden übers grade Richtscheit hinaussprießenden eigenwilligen Trieb wegschneidet. Sonnenschein und Tintenfaß sind richtig, und Muldetal ist richtig, ebenso richtig wie Rhonetal, Elbetal, Bodetal. Erdenleben ist richtig, und doch wußte Goethe, was er tat, als er schrieb: ,Es kann die Spur von meinen Erdetagen . . .' Denn die Sprache und ihre wahren Meister sind eigenwillig und schaffen sich aus Regelwidrigkeiten feine Reize und wertvolle Bereicherungen. Wir sehen nebeneinander: Meerwasser und Meeresstille, Jahrbuch und Jahreszeit, Leibschmerzen und Leibeserben, Windrichtung, Windsbraut, Windeseile, und niemand vermag zu sagen, warum einmal ganz ohne s, ein andermal mit s, ein drittes Mal mit es. Noch merkwürdiger ist eine Verbindung wie $Seite 73$ Hitzschlag: es wäre der Sprache eine Kleinigkeit, die Häufung von Zischlauten zu mildern wie in Hitzeferien, Hitzewelle; aber sie tut es nicht, und wir haben uns zu fügen. Es heißt richtig Hauptstraße, Lindenstraße, Bismarckstraße; oder falsch Dresdenerstraße, Berlinerstraße. Dresdener und Berliner sind in diesen Fällen keine Haupt-, sondern Beiwörter, werden noch als Beiwörter gefühlt, müssen also unverbunden stehen. Verschiedene Sprachbüttel, die ich nicht jedesmal mit Namen anführen mag, haben Zusammensetzungen bemakelt wie: Schillerdenkmal, Röntgenstrahlen (,gelallt'), Goetheforscher, Wagnerverehrer (,das könnte doch nur ein Kerl sein, der gewerbsmäßig jeden verehrt, der Wagner heißt'), Bismarckbeleidigung (,Gipfel der Sinnlosigkeit'), Silberhochzeit (,kann nur von einem Juden herrühren', — es steht zuerst bei Goethe und Voß, steht nie bei Heine und Börne), Fremdkörper, Höchstgehalt, Mindestgehalt, Einzelfall, Deutschgefühl, Erstaufführung (gegen die Heimpariserei Première wurde von dem Merker nichts eingewandt), Ärztetag. Über diese und ähnliche Sprachdummheiten ist der Sprachgebrauch der Gebildetsten siegreich hinweggeschritten, und alle jene bemakelte Neubildungen gelten jetzt mit Recht für gutes Deutsch. Der Sprache glücken noch ganz andre scheinbare Widersinnigkeiten: Goldbuchstabe, Silberhorn, Wachshölzchen, selbst ein silbernes Hufeisen sind ihr längst sinnvolle Ausdrücke geworden. Und mag man bei strenger Prüfung Verbindungen wie Prinzgemahl, Prinzregent, Fürstreichskanzter noch so falsch finden, — der heilende Sprachgebrauch hat die Fehler ausgetilgt und zu brauchbaren Redeformeln gemacht. Zusammensetzungen mit dem Zeitwortstamm . . nahme: Parteinahme, Anteilnahme (,wir haben ja Anteil'), Zuhilfenahme wurden verallgemeinernd für ,schauderhaft' erklärt. Desgleichen Bildungen wie Instandsetzung, Verächtlichmachung, Außerachtlassung, Nachhauseweg, das Ineinanderarbeiten, Inumlaufsetzung, Außerdienststellung. Niemand schaudert mehr davor, niemand braucht davor zu schaudern, außer dem Beckmesser, dem das Schauderhaftfinden (!) der Zweck des Lebens ist. Viele jener Verbindungen sind an die Stelle elender Welschwörter getreten (Renovation, Diskreditierung, Omission, Kooperation, Zirkulation); aber gegen diese hatte nie einer der Bemakler deutscher Neuschöpfungen sein ,Schauder- $Seite 74$ haft!' geschleudert. Daß nicht jede Verbindung mit .. nahme zu empfehlen ist, begreift der Leser (Vgl. S. 349). Bekrittelt wurden oder werden mit Scheingründen der ,Logik' Bequemlichkeitswendungen wie Entstehungsgeschichte des römischen Reichs, Goethes Geschichtschreiber; Goethes Biograph wurde nicht bemängelt. Das Bedürfnis fordert solche läßliche Fügungen, und der Sprachgebrauch rechtfertigt hinterher das Bedürfnis. Auf den landschaftlichen Unterschied in der Behandlung gewisser Gruppengebilde wurde schon bei norddeutschem Wartesaal und süddeutschem Wartsaal hingewiesen. Die süddeutsche Neigung zum Verkürzen des ersten Gliedes zeigt sich noch in Wörtern wie Tagblatt (Stuttgart usw.), Tageblatt (Berlin, Hannover), Taglohn und Tagelohn, Wagmut, Wagemut. Beide Formen müssen als gleichberechtigt gelten. |
Zweifelsfall | |
---|---|
Beispiel | |
Bezugsinstanz | 19. Jahrhundert, Alt, Sprachverlauf, Schreiber schlechten Stils, Goethe - Johann Wolfgang, Voß - Johann Heinrich, Heine - Heinrich, Börne - Ludwig, Gebildete, Norddeutsch, Süddeutsch, Stuttgart, Berlin, Hannover |
Bewertung |
schlecht sind überflüssig umständliche Bildungen, nicht unbedingt verwerflich, als gut, oder doch erträglich empfunden, genügend und besser, kaum begreiflich, merkwürdig, Verschiedene Sprachbüttel, Sprachdummheiten, |
Intertextueller Bezug | Grimms Wörterbuch, Gustav Wustmann |