Der substantivierte Infinitiv. § 268. Wesen und Zulässigkeit
Buch | Matthias (1929): Sprachleben und Sprachschäden. Ein Führer durch die Schwankungen und Schwierigkeiten des deutschen Sprachgebrauchs. |
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Seitenzahlen | 259 - 260 |
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Unsicherheit |
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In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle
Behandelter Zweifelfall: | |
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Genannte Bezugsinstanzen: | Sprache der Vereine, Fachsprache (Geschichtswissenschaft), Schenck - Hartmann, Vogt - Johann Gustav, Gegenwärtig, Literatursprache, Kirchensprache, Geschäftssprache |
Text |
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Noch in etwas äußert sich jener Hang zum Greisenhaften besonders schlimm, das ist die schier ärgerliche Aufdringlichkeit, mit der sich eben just, wo das Verständnis für Sätze als das allein Richtige fehlt, zur rechten Zeit eine substantivierte Verbalform einstellt: § 268. Wesen und Zulässigkeit. Selbstverständlich ist der Gebrauch der Nennform als Hauptwort nicht an sich falsch, gegenüber dem stamm- oder sinnverwandten Hauptworte vielmehr immer am Platze, wo es sich darum handelt, Tätigkeit oder Zustand ganz allgemein und schlechthin zwar in substantivierter Form, aber doch in ihrer Entwicklung darzustellen. Man vergleiche: der Lauf des Flusses, Lebens, Blutes u. ä. womit der sachlich und danach auch begrifflich festgelegte Weg gemeint ist, und: das Laufen der Rinnen, das einen fortdauernden Zustand ausdrückt. Ein Verein, ein Reich feiert sein Bestehen, d. i. das Dasein eine lange Dauer hindurch, aber der Kaufmann nimmt seine Bestände auf, worin sein Vorrat besteht, und so gut das Wetter wie mancher Charakter hat keinen Bestand. Es kommt nicht auf die Größe der Gabe (die etwas Festes, Bestimmtes ist), sondern auf die Art des Gehens an (das man in seiner Ausführung beobachtet). Ähnlich erklärt sich der folgende Wechsel: Freilich ist mit dem Dampfschiff auf der Elbe zu fahren ein Hochgenuß: nur dauert die Rückfahrt von Pirna nach Schandau so viel länger als die Talfahrt! Die Frau verträgt das Rückwärtsfahren nicht. — Man höre auch noch die Mustersätze: Alle Kunst ist ein Bilden (eine fortgesetzte Ausübung dieser Tätigkeit) und wahrlich nicht die geringste der Künste die der Erziehung, der Bildung (einer begrifflich abgegrenzten Art) der Menschen nach dem Bilde Gottes. Fr. A. Langes bekanntes Wort von der Begriffsdichtung der Metaphysik sollte ja wohl eine verhüllte Form des Aburteilens sein. Es ist weiter auch nicht ausgeschlossen, zur Nennform eine Beifügung hinzuzusetzen, insofern ja die Tätigkeit auch dann noch in ihrer Entwicklung, nur nach einer bestimmten Art oder Richtung, bezeichnet werden kann. So singt der fromme Dichter: Segne uns mit sel'gem Sterben, der Kulturhistoriker erinnert daran, daß das Reisen im Postwagen auch seine großen Vorzüge hatte. Ebenso kann der substantivierte Infinitiv, wenn er mit einem Genetiv verbunden ist, mit dem subjektiven, wenn es ein intransitives, mit dem objektiven, wenn es ein transitives Verbum ist, recht wohl unter der nämlichen Bedingung am Platze sein, daß Zustand und Tätigkeit als solche in ihrer Entwicklung und Ausführung dargestellt werden sollen, ja wenn es kein entsprechendes Hauptwort gibt, selbst ohne diese Bedingung. So darf also nur aus dem $Seite 260$ letzteren Grunde eine Überschrift bei J. G. Vogt, lauten: Das Entstehen und Vergehen der Welt. Anderseits aber ist, weil jene Bedingungen unerfüllbar bleiben, von den immer wieder fortgeschleppten Beispielen K. F. Beckers//1 Ausführl. deutsche Gramm. I, 239; er verurteilt sogar „das Tragen seidener Kleider“, das heute längst berechtigt ist, wo — soviel über das Tragen von Seide, Wolle und Baumwolle geschrieben wird!// wenigstens das eine sicher falsch: das Essen unreifer Äpfel (statt: der Genuß unreifer Äpfel), und ebenso sicher ein anderes: der Apostroph zeigt das Ausfallen eines e an; denn es handelt sich nicht mehr um das noch zu beobachtende Ausfallen, sondern um den bereits erfolgten Ausfall. |
Zweifelsfall | |
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Beispiel |
Lauf, Laufen, Bestehen, Bestände, Bestand, Gabe, Gehens, zu fahren, Rückfahrt, Rückwärtsfahren, Bilden, Bildung, Begriffsdichtung, Aburteilens, Sterben, Reisen, Entstehen, Vergehen, Tragen, Essen, Ausfallen, Ausfall |
Bezugsinstanz | Kirchensprache, Literatursprache, Schenck - Hartmann, gegenwärtig, Geschäftssprache, Fachsprache (Geschichtswissenschaft), Vogt - Johann Gustav, Sprache der Vereine |
Bewertung |
am Platze, äußerst sich der Hang zum Greisenhaften besonders schlimm, berechtigt, darf lauten, Erklärt sich, Mustersätze, nicht an sich falsch, nicht ausgeschlossen, schier ärgerliche Aufdringlichkeit, sicher falsch, Verständnis für Sätze feals das allein Richtige fehlt, verurteilt |
Intertextueller Bezug | K. F. Beckers: deutsche Gramm. I, 239 |