Die Sucht, sich neu und geistreichelnd auszudrücken

Aus Zweidat
Wechseln zu: Navigation, Suche

Hinweis: Dieses Kapitel ist derzeit noch in Bearbeitung. Die angezeigten Informationen könnten daher fehlerhaft oder unvollständig sein.

Buch Matthias (1929): Sprachleben und Sprachschäden. Ein Führer durch die Schwankungen und Schwierigkeiten des deutschen Sprachgebrauchs.
Seitenzahlen 455 - 456

Nur für eingeloggte User:

Unsicherheit

In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle

Behandelter Zweifelfall:

Rhetorische Figuren und ihr Gebrauch

Genannte Bezugsinstanzen: 20. Jahrhundert, Conrad - Heinrich, Gegenwärtig, Alt, Neu, Literatursprache, Zeitungssprache, Kruse - Heinrich, Sprache der Kunst, Jung
Text

Doch die Sammlung verzerrter Bilder zählt Stücke genug, jeden den wahren Grund des schlechten Eindrucks erkennen zu lassen; es ist die Sucht neu zu sein und auch Dinge, die die kürzeste und nüchternste Benennung erfordern, in schillerndes Gewand zu kleiden und geistreich umzunennen. Wahrlich, schleunige Rückkehr zu Natur und Einfachheit tut not. Denn auch wenn man wenigstens in dem Mittel, das mit Bewußtsein angewandt wird, größeres Leben, größere Anschaulichkeit zu erzielen, in dem mehr oder weniger ausgestalteten Bilde und Vergleiche größere Wahrheit und Natürlichkeit zu finden hofft, wird man sich bitter enttäuscht sehn. Selbst die einfachsten Forderungen, die man an jede bildliche Ausdrucksweise stellen muß, bleiben unerfüllt, daß sie nämlich einfach und natürlich sei, wahr und fachentsprechend sowie anschaulicher als die zu veranschaulichende Sache selbst; und doch muß bei ausgeführteren Bildern, bei größerem selbständigem Leben des Bildes und seiner Einzelzüge jede Unwahrheit und jeder Widerspruch desto fühlbarer werden.

Wie unangemessen und geschmacklos ist nicht z. B. der folgende Vergleich in einem Kalender, den ein k. k. Landschulrat herausgegeben hat: Unförmig ist die Geburt eines Weibchens vom Bärengeschlecht, doch die Mutter leckt ihr Junges so lange und anhaltend, bis es ihrer Gestalt gleichkommt. So wirke auch du, christlicher Lehrer, auf deine Zöglinge, daß sie dir im Gutsein ähnlich werden. Oder kann es etwas Widerspruchsvolleres geben als solche Vergleiche wie die folgenden? Wie ein getretener Wurm krümmt sich der Nationalliberalismus; er fletscht die Zähne — merkwürdiger Wurm das! — ballt — immer merkwürdiger! — die eine Faust, und mit der andern fleht er um Rettung. — Die Universitäten sind wie rohe Eier; man darf sie kaum anfassen, so stellen sie sich auf die Hinterfüße und wehren sich. Auch der nächste Vergleich eines Kunstrichters ist durchaus nicht so angemessen, nämlich nicht so schmeichelhaft, wie er offenbar sein soll, und viel zu weit hergeholt, als daß er wirklich verdeutlichen könnte: Herrn G.s Lohengrin ist eine von poetischem Hauche durchwehte Gestaltung, in deren vortrefflichen Schattierungen wir der edlen Gesanggebung und dem weihevollen Spiele begegnen — also bloß gelegentlich bei dem und jenem Schatten?! — Mächtiger zu ergreifen vermöchte schwerlich das Tönen der Memnonsäule bei dem ersten Gruß der Morgensonne; glauben wir, soll auch nichts so Absonderliches sein!

$Seite 456$ Auch der durch den Zweck des Vergleiches gegebene Grundsatz wird immer weniger beachtet, daß ein sinnliches Bild, das Konkrete, wohl geeignet ist, auch einen geistigen Vorgang, das Abstrakte, zu veranschaulichen, daß aber selten umgekehrt ein geistiger Vorgang etwas Geschautes deutlicher machen kann. Man höre nur aus einer poetischen Schilderung der See: Das Meer, das sich höher hebt mit jeglichem Schritte, den der Mensch am Ufer emporsteigt, sowie Gott stets höher sich hebt vor dem denkenden Geiste (H. Kruse). Einer vom jüngsten realistischen Deutschland, M. G. Conrad, vergleicht die Blitze mit unsinnigen Glutgedanken; das Krachen des Donners erläutert er durch die tragische Wucht des Schicksals und das Gewitter nennt er ein Musikdrama, eine Symphonie mit elektrischen Beleuchtungsarabesken. Und doch hätte man grade diese Schriftsteller nach ihrem Namen Naturalisten und Realisten für berufen halten können, erfrischend und von Überschwenglichkeit und Künstelei reinigend zu wirken, soll ich sagen auch oder wenigstens? was die Sprache anlangt! Im Gegenteil aber haben sie oft die Verunstaltung und Verhunzung des sprachlichen Gewandes noch weiter getrieben, als sie vorher schon gediehen war. Mit den Mitteln der Sprache, die doch weder die Gebärden des Schauspielers noch den Stift oder Pinsel, die Farben oder den Meißel der bildenden Künstler zur Verfügung hat, möchten die „neuen Maler" wahrlich jede Regung und Zuckung des äußeren Menschen, jedes Härchens, jeder Fiber an ihm, kurz vielerlei nachmachen, was sich durch die Sprache überhaupt nicht nachbilden läßt; grade dadurch aber sind auch sie, die Prediger der Natur, erst recht zu Unwahrheit und Unnatur verführt worden. Man versteht wahrlich oft solch hypernaturalistische Sätze wie die folgenden kaum: Ich erschrak vor diesem vipernhaft Aufzüngelnden, in gezackten Kurven gebrochen schneidenden Feindseligen, das mir aus diesen kalten, harten, grauen Augen, aus diesem gleichsam in erzener (!) Gliederzusammengeschmiegtheit (!) kraftverrammelten (!) Leibe entgegenzuckte. Eine (!) dunstige Schwüle kroch in geschärfthaarigen Einschlagreizen an meinem Leibe in die Höhe, es fraß und brannte wie mit versteckter Behäbigkeit kriechende Raupenberührung. Der Wind blies jetzt in spitzkugelig hinausgewölbten Sturmröhren daher, jetzt klatschte es sich einem gegen den Leib, wie ein platter in mechanisch aufgezogenem Rhythmus korrekt taumelnder Papierdrache! (Moderne Dichtung, Mai 1890). Damit sind denn der folgenden ähnliche Stellen, wie sie in früheren Romanen und in Sonntagsbeilagen großer und kleiner Blätter noch heute vorkommen, glücklich übertrumpft: Wenn die Frau liebt, blüht nicht nur die Erde, alle Sonnen und Sterne tragen Orangenbäume mit Früchten und Palmen, mit Kokos und Datteln, und dazwischen (!) windet sich der Mond wie eine Schnecke, der man die Hörner abzutreten besorgt ist. Ob sich wirklich eine liebende Frau mit allen ihren Glücksträumen also auf alle Sterne versteigt und den Mond, den Liebende gern Anblicken, mit einer von Frauen nie geliebten Schnecke vergleicht?

Scan
Matthias(1929) 455-456.pdf


Zweifelsfall

Rhetorische Figuren und ihr Gebrauch

Beispiel
Bezugsinstanz neu, Sprache der Kunst, Kruse - Heinrich, jung, Conrad - Heinrich, 20. Jahrhundert, Zeitungssprache, alt, Literatursprache, gegenwärtig
Bewertung

verzerrt, schlecht, unangemessen, geschmacklos, merkwürdig, immer merkwürdiger, durchaus nicht so angemessen, viel zu weit hergeholt, unsinnig, Verunstaltung und Verhunzung des sprachlichen Gewandes noch weiter getrieben, Unwahrheit und Unnatur

Intertextueller Bezug