Perioden
Buch | Matthias (1929): Sprachleben und Sprachschäden. Ein Führer durch die Schwankungen und Schwierigkeiten des deutschen Sprachgebrauchs. |
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Seitenzahlen | 421 - 422 |
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Unsicherheit |
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In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle
Behandelter Zweifelfall: | |
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Genannte Bezugsinstanzen: | Schreiber guten Stils, Johst - Hanns, Mann - Thomas, Gegenwärtig, Goethe - Johann Wolfgang, Gesprochene Sprache, Schriftsprache, Literatursprache, Gehobene Sprache, Luther - Martin |
Text |
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Ebensowenig wie mit dem Hinweis auf die dem Deutschen eigenste Art der Satzausspinnung die Züchtung solcher Reichsbandwürmer empfohlen, soll damit die kunstvollere Periode der deutschen Prosa abgesprochen und sie zu bauen verwehrt werden. Im Gegenteile hat unsere Sprache dieses künstlerische Satzgefüge, zumal in der Schule der Lateiner gelernt trotz irgend einer; und der kunstvolle, überlegte Stil der Festrede, des kunstvoll aufgeführten schönen Vortrages und Aufsatzes wie die Darlegungen des geborenen Redners werden ihn ungern entbehren. Ist doch die Periode, wenn sie schon manchmal lang sein mag, durchaus nicht das, was sich das unklare Stilgefühl vieler die Feder Führenden darunter vorstellt: ein recht vollgepackter, langhingezogener Quersack, in den möglichst durcheinander geschüttelt möglichst viele mehr oder minder zusammengehörige Gedanken hineingepackt werden, weil es so etwas doch dem gewöhnlichen Menschen — antun müsse! Sie ist vielmehr eine durchsichtige, zweiteilige Kunstform, deren beide Hauptteile am besten als Vorder- und Nachsatz oder, was sich damit oft deckt, als Neben- und Hauptsatz zueinander gehören, wie zu einer Kreishälfte die andere, und einander zwar nicht, wie diese, vollständig, aber doch möglichst gleich sein müssen in Bau und Ausdehnung. Dieses ebenmäßige Satzgebilde ist die klarste Darstellung für alle Gedanken, die zueinander im Verhältnis der Voraussetzung und Folgerung stehn oder in dem der Bedingung und Folge, der Ursache und Wirkung, der Frage und Antwort, der gespannten Erwartung und ihrer Befriedigung, des Vergleiches endlich und des geraden Gegensatzes//1 Übereinstimmend sind der hervorragende Schulmann P. Cauer, Die Kunst des Übersetzens, S. 154, und der scharfe Denker R. Hönigswald, Grundlagen der Denkpsychologie, S. 255, für die Periode eingetreten.//. Kein Geringerer als Luther handhabt die Form schon meisterhaft: Hält und gilt es, so der Papst des andern Tags seiner Erwählung Regel und Gesetz macht in seiner Kanzlei, dadurch unsere Stifter und Pfründen geraubt werden, wozu er kein Recht hat; so soll es vielmehr gelten, so der Kaiser Karolus des andern Tags seiner Krönung Regel und Gesetz gebe, durch ganz Deutschland keine Lehen und Pfründen mehr gen Rom kommen zu lassen durch des Papst Monat, und was hineinkommen ist, wieder frei werde und von den römischen Räubern erlöset, dazu er Recht hat von Amts wegen seines Schwertes. Daneben eine schlichte zweiteilige Form: Manchmal sehen die Leute alle aus, als ob sie aus der Sammelmappe des „Simplizissimus“ ausgerissen, manchmal aber auch, als ob sie nur den „Fliegenden Blättern“ verloren gegangen wären (H. Johst). Daß nicht bloß Neben- und Hauptsätze, sondern auch mehrere Hauptsätze den Vorder- und Nachsatz einer Periode abgeben können, wenn anders sie nur einen Gegensatz oder sonst eins der oben angeführten Verhältnisse ausdrücken, mag der Satz aus Wilhelm Meisters Lehrjahren lehren: Es wird soviel von Erziehung gesprochen und geschrieben, und ich sehe nur wenig Menschen, die den einfachen, aber großen Begriff, der alles andere in sich schließt, fassen und in Ausführung übertragen können. Ihm geht eine verwickelte Periode voraus, wie sie ebenmäßiger nicht gedacht werden kann: (Niemand glaube, die ersten Eindrücke der Jugend verwinden zu können). Ist er in einer löblichen Freiheit, umgeben von schönen und edeln Gegenständen, im Umgange mit guten Menschen $Seite 422$ aufgewachsen, haben ihn seine Meister das gelehrt, was er zuerst wissen mußte, um das übrige leichter zu begreifen, hat er gelernt, was er nie zu verlernen braucht, wurden seine Handlungen so geleitet, daß er das Gute künftig leichter und bequemer vollbringen kann, ohne sich irgend etwas abgewöhnen zu müssen: so wird dieser Mensch ein reineres, vollkommeneres und glücklicheres Leben führen als ein anderer, der seine erste Jugendkraft im Widerstande und im Irrtum zugesetzt hat. Diese Kunstform sieht wahrlich einer Doppelpforte gleich, die durch vier Pfeiler gebildet wird, von denen nun in dem deckenden Nachsatze der erste und vierte durch die Beifügungen reineres und glücklicheres ihre Krönung finden, während die aneinandergerückten beiden mittleren das eine Beiwort vollkommneres wie ein überhöhender Bogen zusammenschließt. Der angesehenste Meister der Periode unter den heutigen ist wohl Thomas Mann, daher eben auch ein Muster aus seiner Feder: Mag es auch angesichts des Weltruhms, von dem heute die Gesamtleistung des großen Forschers getragen ist, eine Kundgebung fast rührender Gelehrtenbescheidenheit bedeuten, wenn Freud die große Abhandlung „Totem und Tabu“ von seinem übrigen Lebenswerk unterscheiden zu sollen glaubte, indem er ihr ausnahmsweise ,einen Anspruch auf das Interesse eines größeren Kreises von Gebildeten“ zuschreibt, so ist wohl richtig, daß sie die in einem relativen und anspruchsvollen Sinn populärste von seinen Schriften bildet, und zwar weil sie nach ihren Absichten und Ansichten die medizinische Sphäre weit ins allgemein Geistesgeschichtliche hinaus überschreitet und vor dem der Frage des Menschen nachhängenden Leser ungeheure Perspektiven seelischer Vergangenheit, Urwelttiefen moralischer, gesellschaftlicher, mythisch-religiöser Früh- und Vorgeschichte der Menschheit aufhellend aufreißt. Zum Schluß sei mit Hinweis auf das Goethische Muster nur noch der falschen Auffassung vorgebeugt, daß in Vorder- und Nachsatz auch die Zahl der Glieder gleich groß und daß diese sozusagen aufs Haar gleich lang sein müßten. Im Gegenteil wird eine gewichtige Zusammenfassung, eine entschiedene Verneinung, eine Überraschung sich trefflich darin malen, daß auf einen breiter ausgesponnenen, mehrgliedrigen Vordersatz ein kurzer Nachsatz folgt, wie in dem einer Novelle Th. Manns entnommenen Gefüge: Was er als Knabe geträumt und gehofft, worum er gearbeitet und sich gemüht hatte, worum er an den strengen, stolzen Herrn zu seinem bittersten Schmerze eine Fehlbitte getan hatte — das bot ihm auf einmal verlockend der Zufall. |
Zweifelsfall | |
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Beispiel | |
Bezugsinstanz | gegenwärtig, Schreiber guten Stils, Mann - Thomas, Schreiber guten Stils, Goethe - Johann Wolfgang, Johst - Hanns, gehobene Sprache, Schriftsprache, gesprochene Sprache, Schreiber guten Stils, Luther - Martin, Literatursprache, Mann - Thomas, Goethe - Johann Wolfgang |
Bewertung |
dem Deutschen eigenste Art der Satzsausspinnung, durchsichtige, zweiteilige Kunstform, ebenmäßige Satzgebilde, Ebensowenig soll verwehrt werden, künstlerische Satzgefüge, kunstvollere Periode, Reichsbandwürmer, schlichte, wie sie ebenmäßiger nicht gedacht werden kann |
Intertextueller Bezug | P. Cauer: Die Kunst des Übersetzens, S. 154, R. Hönigswald: Grundlagen der Denkpsychologie, S. 255 |