Vokalwechsel im Präsens der starken Verben
Buch | Matthias (1929): Sprachleben und Sprachschäden. Ein Führer durch die Schwankungen und Schwierigkeiten des deutschen Sprachgebrauchs. |
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Seitenzahlen | 91 - 92 |
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Unsicherheit |
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In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle
Behandelter Zweifelfall: | |
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Genannte Bezugsinstanzen: | Kindersprache, Leip - Hans, Avenarius - Ferdinand, Beyerlein - Franz Adam, Hildebrand - Rudolf, Hoffmann - Ernst Theodor Amadeus, Nietzsche - Friedrich, Goethe - Johann Wolfgang, Schiller - Friedrich, Literatursprache, Volk, Familie |
Text |
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Neben der vollständigen Versetzung eines Verbums aus der starken in die schwache Konjungation ist fast häufiger noch ein teilweiser Verzicht auf die starke Bildung, soweit sie die Gegenwart berührt, nämlich auf den schönen Vokal-, also Klangwechsel der folgenden Art. Die Stämme auf o, au und besonders a haben nämlich in der 2. und 3. Pers. Sing. Präs. Indik. den Umlaut ö, äu und ä: ich laufe, du läufst, er läuft; ich stoße, du stöß(es)t, er stößt //1 Ähnlich wie diese Formen darf man jetzt auch die Formen du kömmst, er kömmt von kommen beurteilen, die ganz zu verbannen man durch das Bildungsgesetz gar nicht, aber auch durch den Brauch nicht sonderlich berechtigt ist. Tatsächlich kommt die Unsicherheit in diesen Formen ja daher, daß das o (ö) gar nicht ursprünglich, sondern erst durch Trübung aus e (i) entstanden ist, wie denn das Volk dem ahd. quimis, quimit entsprechend noch sagt: du kimmst, er kimmt; und Hildebr. in Wb. V, 1629 sagt vorsichtig, daß der Umlaut hier wohl seltener würde, obwohl er richtig sei. Ebenso ist es nicht mehr am Platze, gegen du frägst, er frägt, z. B. bei Nietzsche, neben fragst fragt loszuziehen, da ja diese Formen zu dem nun doch eingebürgerten frug stimmen.//: ich falle, du fällst, er fällt; und die starken Stämme mit e oder in seltenen Fällen dafür eingetretenem ä (gebären) oder ö (erlöschen) haben in denselben Formen und außerdem in der Einzahl der Befehlsform für diese e, ä, und ö ein i oder vor einfachem Mitlaute und bei langer Aussprache ie: ich lese, du lies(es)t, er liest, lies: ich gebe, du gibst, er gibt, gib! ich erlösche, es erlischt, erlisch! ich helfe, du hilfst, er hilft hilf! Unterbleiben muß dieser Wechsel nur bei hauen, schnauben, saugen $Seite 92$ und schaffen, ebenso bei genesen, heben, schwören. Daß zugleich ein schwaches Verb in dem heute wesentlich starken scheren steckt, ist wohl der Grund, daß es auch von diesem im eigentlichen Sinne heißt du scherst (das Haar), wie: er hätte sich nicht um die Bosheit geschert (Beyerlein), während in der Bedeutung quälen, angehn die Mutter dem Kinde gewöhnlich noch ebenso zuruft: Schier mich nicht so, als Goethe sagte: Was schiert es mich, u. E. T. A. Hoffmann: Schier dich zu Bett! neben dem Imperfekt: es scherte ihn nicht (H. Leip). — Berstest, berstet von bersten sind erst seit Schiller häufig, nachdem sie freilich schon vorher in den zweisilbigen Formen birstest, birstet vorbereitet waren, die wegen der Konsonantenhäufung ungewöhnlich statt birst erhalten geblieben waren. Außerdem hat sich bei den Schriftstellern noch melk(e)st, melkt, melke! eingeschlichen statt milkst usf., und F. Avenarius bildet (1917): Mit dem Stoff gebärt (statt: gebiert) sich der seelische Gehalt eines Werkes. |
Zweifelsfall | |
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Beispiel |
laufe, läufst, läuft, stoße, stößest, stößt, falle, fällst, fällt, gebären, erlöschen, lese, liest, liesest, liest, lies, gebe, gibst, gibt, gib, erlösche, erlischt, erlisch, helfe, hilfst, hilft, hilf, hauen, schnauben, saugen, kömmst, kömmt, kommen, kimmst, kimmt, frägst, frägt, fragst, fragt, frug, schaffen, genesen, heben, schwören, scheren, scherst, geschert, schier, schiert, scherte, berstest, berstet, bersten, birstest, birstet, birst, melkst, melkest, melkt, melke, milkst, gebärt, gebiert, flechte, flichtst, flichtest, flicht, focht, ficht, fichtt, riet, rät, lud, lädt, lässest, läßt, wäschst, wäschest, wäscht |
Bezugsinstanz | Avenarius - Ferdinand, Beyerlein - Franz Adam, Goethe - Johann Wolfgang, Hildebrand - Rudolf, Hoffmann - Ernst Theodor Amadeus, Kindersprache, Leip - Hans, Familie, Nietzsche - Friedrich, Schiller - Friedrich, Literatursprache, Volk |
Bewertung |
Eigentümlichkeit, eingeschlichen, Frequenz/fast häufiger, Frequenz/häufig, Frequenz/seltener, ganz verbannen, gar nicht berechtigt, gewöhnlich, geziert, gleichmäßig, muß unterbleiben, nicht, nicht sonderlich berechtigt, richtig (Hildebr.), schön, statt, ungewöhnlich, veraltet, zulässig |
Intertextueller Bezug |