Eine Menge war oder waren?
Buch | Wustmann (1903): Allerhand Sprachdummheiten. Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen |
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Seitenzahlen | 94 - 96 |
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Unsicherheit |
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In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle
Behandelter Zweifelfall: | |
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Genannte Bezugsinstanzen: | Goethe - Johann Wolfgang, Schriftsprache, Zeitungssprache, Geschäftssprache |
Text |
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Wenn das Subjekt eines Satzes durch ein Wort wie Zahl, Anzahl, Menge, Masse, Fülle, Haufe, Reihe, Teil und ähnliche gebildet wird, so wird sehr oft im Prädikat ein Fehler im Numerus gemacht. Zu solchen Wörtern kann nämlich entweder ein Genitiv treten, der als Genitiv nicht erkennbar und fühlbar ist, sondern wie ein frei angeschlossener Nominativ erscheint $Seite 95$ (eine Menge Menschen) und deshalb sogar ein Attribut im Nominativ zu sich nehmen kann (eine Menge unbedeutende Menschen//* Vergl. ein Schock frische Eier — ein Dutzend neue Hemden — eine Flasche guter Wein — mit ein paar guten Freunden — mit ein bißchen fremdländischem Sprachflitter.//, oder ein auf irgendeine Weise erkennbar gemachter Genitiv (eine Menge von Menschen, eine Menge unbedeutender Menschen); die eine Verbindung ist so gebräuchlich wie die andre. Nun ist wohl klar, daß in dem ersten Falle das Prädikat in der Mehrzahl stehn muß; der scheinbare Nominativ Menschen tritt da so in den Vordergrund, daß er geradezu zum Subjekt, daher für die Wahl des Numerus im Prädikat entscheidend wird. Ebenso klar ist aber doch, daß in dem zweiten Falle das Prädikat nur in der Einzahl stehen kann, denn der abhängige Genitiv von Menschen bleibt im Hintergrunde, und entscheidend für den Numerus im Prädikat kann dann nur der Singular Menge sein. Man kann zwar zu solchen Begriffen — nach dem Sinne — das Prädikat auch in die Mehrzahl setzen, aber doch nur, wenn sie allein stehen; durch den abhängigen deutlichen Plural-Genitiv wird das zusammenfassende, einheitliche in dem Begriff Menge so eindringlich fühlbar gemacht, daß es in hohem Grade stört, wenn man Sätze lesen muß, wie: eine auserlesene Zahl deutscher Kunstwerke sind gegenwärtig in Leipzig zu sehen — eine große Anzahl seiner Erzählungen beginnen mit dem jugendlichen Alter des Helden — in der öffentlichen Besprechung sind eine große Anzahl von Gründen angeführt worden — eine Menge abweichender Beispiele dürfen nicht dazu verleiten, die Regel als ungiltig zu bezeichnen — außer den Seen müssen noch eine Menge kleiner Kanäle benutzt werden — dem Reichsdeutschen treten in dem schweizerischen Schriftdeutsch eine ganze Menge von Besonderheiten entgegen — in spätern Auflagen standen noch eine Reihe von neuen Gedichten — eine Reihe charakteristischer Eigentümlichkeiten sind bei Rost und Gellert übereinstimmend vorhanden — eine $Seite 96$ Reihe von Kunstbeilagen ermöglichen dem Kunsthistoriker weitergehendes Studium — kaum ein halbes Dutzend der vorzüglichsten Dramen finden nachhaltige Teilnahme — der größte Teil der Grundbesitzer waren gar nicht mehr Eigentümer — ein ganz geringer Bruchteil der Stellen sind auskömmlich bezahlt — von diesem schönen Unternehmen liegen nun schon eine Reihe von Heften vor — wer da weiß, wie schrecklich unbeholfen die Mehrzahl unsrer Knaben sind — dem Erfolge stehen eine Fülle von verschiednen Bedingungen entgegen. Alle, die so schreiben, verraten ein stumpfes Sprachgefühl und lassen sich von dem Krämer beschämen, der in der Zeitung richtig anzeigt: Ein großer Posten zurückgesetzter Unterröcke ist billig zu verkaufen. Besonders beleidigend wird der Fehler, wenn das Zeitwort im Plural unmittelbar vor dem singularischen Begriff der Menge steht. Umgekehrt sind manche geneigt, alle Angaben von Bruchteilen als Singulare zu behandeln und zu schreiben: bei Aluminium wird zwei Drittel des Gewichts erspart — es wurde nur fünf Prozent der Masse gerettet. Hier ist der Singular natürlich ebenso anstößig, wie in den vorher angeführten Beispielen der Plural. Dem Deutschen eigentümlich ist die Anrede Sie, eigentlich die dritte Person der Mehrzahl. Sie ist dadurch entstanden, daß man vor lauter Höflichkeit den Angeredeten nicht bloß, wie andre Sprachen, als Mehrzahl, sondern sogar als abwesend hinstellte. Man wagte gleichsam gar nicht, ihm unter die Augen zu treten und ihn anzublicken. Das pluralische Prädikat zu diesem Sie wird aber nun sogar mit singularischen Subjekten verbunden, wie Eure Majestät, Exzellenz, der Herr Hofrat (Goethe im Faust: Herr Doktor wurden da katechisiert). So unnatürlich das ist, es wird schwerlich wieder zu beseitigen sein. Die wunderlichste Folge dieser Spracherscheinung ist wohl ein Satz wie der: Verzeihen Sie, daß ich Sie, der Sie ohnehin so beschäftigt sind, mit dieser Frage belästige. |
Zweifelsfall | |
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Beispiel | |
Bezugsinstanz | Schriftsprache, Zeitungssprache, Goethe - Johann Wolfgang, Geschäftssprache |
Bewertung |
stumpfes Sprachgefühl, besonders beleidigend, anstößig, unnatürlich, wunderlich |
Intertextueller Bezug |