Höhenkurort für Nervenschwache ersten Ranges
Buch | Wustmann (1903): Allerhand Sprachdummheiten. Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen |
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Seitenzahlen | 294 - 297 |
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Unsicherheit |
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In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle
Behandelter Zweifelfall: | |
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Genannte Bezugsinstanzen: | 19. Jahrhundert, Neu, Sprachverlauf, Schriftsprache, Zeitungssprache, Wissenschaftssprache |
Text |
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Mit großer Schnelligkeit, bazillusartig, wie immer, hat sich seit einiger Zeit ein Fehler in der Wortstellung verbreitet, der noch vor zwanzig bis dreißig Jahren ganz undenkbar gewesen wäre, der Fehler, der in Verbindungen liegt, wie den folgenden: der Direktor Hittenkofer des Technikums zu Strelitz — das Töchterchen Alice des Herrn Hofhotelier Baumann — die Sektion Sterzing des österreichischen Touristenklubs. Hier sind zwei Konstruktionen in- und durcheinander geschoben. Richtig ist es, zu sagen: der Direktor Hittenkofer; hier ist der Name Hittenkofer das Hauptwort, und der Direktor eine Apposition dazu. Richtig ist es auch, zu sagen: der Direktor des Technikums; hier ist der Direktor das Hauptwort, und des Technikums ein Attribut dazu. Aber falsch ist es, beide Konstruktionen so miteinander zu verbinden, wie es in den angeführten Beispielen geschehen ist; denn dann ist Hittenkofer das Hauptwort zu der Apposition der Direktor, und gleichzeitig der Direktor das Hauptwort zu dem Attribut des Technikums. Will $Seite 295$ man beide Konstruktionen verbinden, so kann es nur heißen: der Direktor des Technikums zu Strelitz Hittenkofer. Dann ist Hittenkofer das Hauptwort, der Direktor die Apposition dazu, und des Technikums das Attribut zur Apposition. Wer ein wenig Sprachgefühl hat, für den wird es dieser langen Auseinandersetzung gar nicht bedurft haben. Man denke sich, daß jemand sagen wollte: die Ballade Erlkönig Goethes — der Doktor Meurer der Medizin — der Minister von Hammerstein des Innern — der Begründer Ritter der wissenschaftlichen Erdkunde — das Mitglied Eugen Richter des Reichstags — jeder würde das für lächerlich und ganz unmöglich halten, und doch wären das ganz ähnliche Verbindungen.//* Das Mitglied Eugen Richter des Reichstags habe ich wirklich gedruckt gelesen!// Wer sich den logischen Verstoß, der in solchen Ineinanderschiebungen liegt, nicht klar machen kann, der müßte doch wenigstens stutzig werden, wenn er den abhängigen Genitiv, der sonst immer unmittelbar auf das Wort folgt, von dem er abhängt, hier durch ein dazwischengeschobnes Wort davon getrennt sieht! Es wird aber niemand stutzig: man schreibt ruhig: der Redakteur Küchling des Leipziger Tageblatts, der Direktorialassistent Prof. Vogel des städtischen Museums, der Sekondeleutnant von Guttenberg des Infanterieleibregiments, der Prokurist Hermann Becker der Firma Schimmel und Ko., der Insasse Körner des hiesigen Arbeitshauses, der Mönch Bernardus des Klosters St. Stephan, die Villa Achilleion der Kaiserin Elisabeth, die Jacht Meteor des deutschen Kaisers, der Passagierdampfer Großer Kurfürst des Norddeutschen Lloyd, das Pferd Lippspringe des Freiherrn von Reitzenstein, die Komödie Hans Pfriem des Martin Hayneccius, die Marmorbüste Die Verdammnis des kurfürstl. sächs. Hofbildhauers Permoser, der Bezirksverband Sachsen des deutschen Schmiedeverbandes, die Orts $Seite 296$ gruppe Zeitz des Allgemeinen deutschen Schulvereins, der Zweigverein Berlin-Charlottenburg des Allgemeinen deutschen Sprachvereins (!), die Haltestelle Zwischenbrücken der Plagwitzer Eisenbahn, die Strecke Faido-Lavorgo der Gotthardbahn und (das neueste!): Prinz Heinrich der Niederlande. Und die angeführten Beispiele zeigen, daß der Fehler keineswegs bloß in Zeitungen grassiert, sondern auch in wissenschaftlichen Werken spukt. Unleugbar hat der Fehler etwas bequemes, und das Bestreben, ihn zu vermeiden, manchmal etwas unbequemes. Aber wird er dadurch erträglicher? Wem es nicht gefällt, zu sagen: die Ortsgruppe des Allgemeinen deutschen Schulvereins Zeitz (natürlich ist das häßlich, aber doch nicht wegen der Wortstellung, sondern weil einer Ortsgruppe frischweg ein Städtename beigelegt wird), der sage doch: die Zeitzer Ortsgruppe des Allgemeinen deutschen Schulvereins. Das ist deutsch. Streng genommen ist es natürlich auch falsch, zu sagen: der Wetterbericht Nr. 200 des Meteorologischen Instituts. Hier drängt sich Nr. 200 eben so störend zwischen die beiden untrennbaren Glieder, wie in den vorher angeführten Beispielen die Eigennamen; deutsch wäre: der 200. Wetterbericht des Meteorologischen Instituts. Ganz falsch ist: eine Stiftung von 7000 Mark des Herrn Landgerichtsrat N. — eine Handschrift von 240 Blatt der Münchner Hof- und Staatsbibliothek — die Abteilung für Kriegsgeschichte des Großen Generalstabs — die Adreßbücher für 1896 der Städte Berlin, Bremen und Breslau — der Oberarzt für Hautkrankheiten des städtischen Krankenhauses — Höhenkurort für Nervenschwache ersten Ranges — Friseurgeschäft für Herren und Damen ersten Ranges — der Entwurf zu einem Brunnen des Herrn Werner Stein — das Promemoria an die kurfürstliche Bücherkommission des Professors Ernesti — der Mangel an Selbstbewußtsein und Selbständigkeit der deutschen Mädchen — eine öffentliche Vorlesung gegen Entree $Seite 297$ der am beifälligsten begrüßten Produktionen — ein großes Konzert mit darauffolgendem Ball der ganzen Kapelle des Füsilierregiments Nr. 36. Auch hier sind überall zwei Konstruktionen, und zwar beidemal ein Hauptwort mit Attribut (z. B. der Oberarzt des städtischen Krankenhauses und der Oberarzt für Hautkrankheiten), in unerträglicher Weise ineinander geschoben, unerträglich deshalb, weil dadurch der Genitiv von dem Wort abgerissen ist, zu dem er gehört. Freilich läßt sich auch in solchen Fällen nicht immer durch bloße Umstellung helfen. Schreibt man: der Oberarzt des städtischen Krankenhauses für Hautkrankheiten, so ist zwar die unsinnige Verbindung: Hautkrankheiten des städtischen Krankenhauses beseitigt: aber dafür wird nun das Mißverständnis möglich, daß es ein besondres Krankenhaus für Hautkrankheiten gebe. In solchen Fällen bleibt nichts übrig, als ein Partizip zu Hilfe zu nehmen und zu schreiben: der an dem städtischen Krankenhaus angestellte Oberarzt für Hautkrankheiten. Solche Partizipia werden so oft ganz überflüssigerweise hinzugesetzt (vgl. S. 284), daß man schon auch einmal eins hinzusetzen kann, wo es notwendig ist. Besonders schlimm sind aber nun drei Verstöße gegen die Gesetze der Wortstellung, die zum Teil schon seit alter Zeit, zum Teil auch erst in neuerer Zeit für besondre Feinheiten und Schönheiten gehalten werden und deshalb nicht eindringlich genug bekämpft werden können. Der erste ist: |
Zweifelsfall | |
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Beispiel | |
Bezugsinstanz | neu, Schriftsprache, Sprachverlauf, 19. Jahrhundert, Wissenschaftssprache, Zeitungssprache |
Bewertung |
bequemes, deutsch, falsch, Fehler, Feinheiten, Frequenz/bazillusartig verbreitet, Ganz falsch, ganz unmöglich, häßlich, kann es nur heißen, lächerlich, logischen Verstoß, notwendig, Richtig, schlimm, Schönheiten, störend, überflüssigerweise, unbequemes, unerträglicher Weise, unsinnige |
Intertextueller Bezug |