Natürliches und grammatisches Geschlecht
Buch | Wustmann (1903): Allerhand Sprachdummheiten. Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen |
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Seitenzahlen | 270 - 271 |
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Unsicherheit |
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In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle
Behandelter Zweifelfall: | |
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Genannte Bezugsinstanzen: | Sprache des Buchhandels, Goethe - Johann Wolfgang, Schiller - Friedrich, Schriftsprache, Literatursprache |
Text |
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Viel Kopfzerbrechen hat schon manchem die Frage gemacht, ob man auf Wörter wie Weib, Mädchen, Fräulein, Mütterchen mit es, das und sein zurückweisen müsse, oder auch mit sie, die und ihr zurückweisen dürfe, mit andern Worten: ob bei solchen Wörtern das grammatische oder das natürliche Geschlecht vorgehe. Auch bei Backfisch kann die Frage entstehen. Nun, über das Ob braucht man sich den Kopf nicht zu zerbrechen, es ist eins so richtig wie das andre; die Schwierigkeit liegt nur in dem Wo und Wie, und hierüber läßt sich keine allgemeine Regel geben, es muß das dem natürlichen Gefühl des Schreibenden überlassen bleiben. Klar ist, daß das grammatische Subjekt solcher Wörter um so eher festgehalten werden darf, je dichter das Fürwort auf das Hauptwort folgt, also besonders bei dem relativen Fürwort, das sich unmittelbar an das Hauptwort anschließt, ebenso, wenn beide sonst nahe beieinander in demselben Satze stehen, z. B.: das Mädchen hatte frühzeitig seine Eltern verloren. Es ist aber auch nicht das geringste dagegen einzuwenden, wenn jemand schreibt: die Dekoration stand dem Mütterchen Moskau gut zu ihrem alten Gesicht. Auch bei Goethe heißt es: dienen lerne das Weib, denn das ist ihre Bestimmung. Je später das Fürwort auf das Hauptwort folgt, desto mehr schwächt sich die Kraft des grammatischen Geschlechts ab, und die Vorstellung des natürlichen Geschlechts verstärkt sich. Namentlich in einer längern Reihe von Sätzen hintereinander das grammatische Geschlecht solcher Wörter $Seite 271$ pedantisch festzuhalten, kann unerträglich werden. Man denke, daß es in Schillers Mädchen aus der Fremde hieße: Es war nicht in dem Tal geboren, man wußte nicht, woher es kam, doch schnell war seine Spur verloren usw. Dagegen ist die Frage, ob es heißen müsse: Ihr Fräulein Tochter (Schwester, Braut) oder Ihre Fräulein Tochter, sehr leicht zu beantworten. Das besitzanzeigende Adjektivum gehört in diesen Verbindungen nicht zu Fräulein, sondern natürlich zu Tochter, Schwester, Braut, wozu Fräulein, gleichsam in Klammern, als bloßer Höflichkeitszusatz tritt (vgl. die Herren Mitglieder). Es darf also nur heißen: Ihre [Fräulein] Braut — empfehlen Sie mich Ihrer [Fräulein] Tochter! Seitdem die Universitäten den Titel Doktor (als ob er eine Versteinerung wäre, von der kein Femininum gebildet werden könnte!) an Damen verleihen, liest man auf Büchertiteln: Dr. Hedwig Michaelson. Setzt man davor noch Fräulein, so hat man glücklich drei Geschlechter nebeneinander: Fräulein (sächlich) Doktor (männlich) Hedwig (weiblich). Dabei ist aber eigentlich gar nichts Verwunderliches. Die Verschrobenheit der Sprache ist ja nur das Abbild von der Verschrobenheit der Sache. Vielleicht druckt man auch noch: Fräulein Studiosus medicinae Klara Schulze. |
Zweifelsfall | |
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Beispiel | |
Bezugsinstanz | Literatursprache, Sprache des Buchhandels, Schriftsprache, Goethe - Johann Wolfgang, Schiller - Friedrich |
Bewertung |
darf also nur heißen, dem natürlichen Gefühl des Schreibenden überlassen, nicht das geringste dagegen einzuwenden, nichts Verwunderliches, so richtig wie das andre, unerträglich, Verschrobenheit der Sprache |
Intertextueller Bezug |