Sedantag und Kretafrage

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Buch Wustmann (1903): Allerhand Sprachdummheiten. Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen
Seitenzahlen 188 - 190

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Unsicherheit
Text

Noch überboten an Geschmacklosigkeit werden Zusammensetzungen wie Erstaufführung durch die Roheit, mit der man jetzt Eigennamen (Ortsnamen und noch öfter Personennamen) vor ein Hauptwort leimt, anstatt aus den Namen ein Adjektiv zu bilden.

Die Herkunft einer Sache wurde sonst nie anders bezeichnet als durch ein von einem Städte- oder Ländernamen gebildetes Adjektiv oder durch eine Präposition mit dem Namen, z. B.: Sizilische Märchen, Bengalisches Feuer, Kölnisches Wasser, Berliner Weißbier, Emser Kränchen, Dessauer Marsch, Motiv aus Capri, Karte von Europa. Jetzt redet man aber von Japanwaren, einer Chinaausstellung, dem deutschen Chinakrieg (!), Smyrnateppichen, Olympiametopen, Samosausbruch, einem Venezuelaprotokoll, Neapelmotiven, Romplänen (das sollen Stadtpläne von Rom sein!), einem Leipzig-Elbe-Kanal und einer Holland-Amerika-Linie. Wenn solche Zusammenleimungen auch zu entschuldigen sein mögen bei Namen, von denen man sich kein Adjektiv zu bilden getraut, wie Bordeauxwein, Jamaikarum, Havannazigarren, Angoraziege, Chesterkäse, Panamahut, Suezkanal, Sedantag (in Leipzig Seedangtag gesprochen), so ließe sich doch schon eine Bildung wie Maltakartoffeln vermeiden, denn niemand spricht von einem Maltakreuz oder Maltarittern. Oder klingt Malteser für Kartoffeln zu vornehm? Auch das Selterser Wasser, wie man es richtig nannte, als es bekannt wurde, hätte man getrost beibehalten können und nicht in Selterswasser $Seite 189$ (oder gar Selterwasser! es ist nach dem nassauischen Dorfe Nieder-Selters genannt) umzutaufen brauchen. Aber ganz überflüssig sind doch die angeführten Neubildungen, denn das Adjektiv japanisch (oder meinetwegen japanesisch!) ist doch wohl allbekannt, jeder Archäolog oder Kunsthistoriker kennt auch das Adjektiv olympisch, auch von samischem Wein hat man früher lange genug gesprochen, und auch von Leipzig und von Holland wird man sich doch wohl noch Adjektiva zu bilden getrauen? Leipzig-Elbe-Kanal! Es ist ja fürchterlich! Einen Städtenamen so vor einen Flußnamen zu leimen, der selber nur angeleimt ist! Vor fünfzig Jahren hätte jeder zehnjährige Junge auf die Frage: wie nennt man einen Kanal, der von Leipzig nach der Elbe führen soll? richtig geantwortet: Leipziger Elbkanal; wie nennt man eine Dampferlinie zwischen Holland und Amerika? Holländisch-amerikanische Linie. Und warum nicht: Smyrnaer Teppiche? Sagt man doch: Geraer Kleiderstoffe. Sachkenner behaupten, die echten nenne man auch so; nur die unechten, in smyrnischer Technik in Deutschland angefertigten nenne man Smyrnateppiche. Mag sein. Aber warum nicht: Motive aus Neapel? Japanwaren, Chinakrieg, Neapelmotive — wer verfällt nur auf so etwas! Man denke sich, daß jemand Italienwaren zum Kauf anbieten, vom Frankreichkrieg oder von Romruinen reden wollte! Ein Wunder, daß noch niemand darauf gekommen ist, den Cyperwein und die Cyperkatze in Cypernwein und Cypernkatze umzutaufen. Die Insel heißt doch Cypern! Jawohl, aber der Stamm heißt Cyper — der ist so gut wie ein Adjektiv, und der ist zum Glück den plumpen Fäusten unsrer Sprachneuerer bis jetzt noch entgangen. Die Italienreisenden haben wir freilich auch schon, wie die Schweizreisenden und die Afrikareisenden. Schön sind die auch nicht (zu Goethes und Schillers Zeit sprach man von italienischen, Schweizer und afrikanischen Reisenden), aber man läßt sie sich zur Not gefallen; der Ortsname bezeichnet da nicht den Ursprung, die Herkunft, sondern das Land, $Seite 190$ auf das sich die Tätigkeit des Reisenden erstreckt. Im allgemeinen aber kann doch das Bestimmungswort eines zusammengesetzten Wortes nur ein Appellativ, kein Eigenname sein. Von Eisenwaren, Sandsteinmetopen, Stadtplänen, Fluß- und Waldmotiven kann man reden, aber nicht von Japanwaren, Olympiametopen, Romplänen und Neapelmotiven. Das ist nicht mehr gesprochen, es ist gestammelt.

Gestammelt? O nein, es ist ja das schönste Englisch! Der Engländer sagt ja: the India house, the Oxford Chaucer (das soll heißen: die Oxforder Ausgabe von Chaucers Werken), the Meier Madonna, das muß natürlich wieder nachgeplappert werden. Wir kommen schon auch noch dahin, daß wir die Weimarische Ausgabe von Goethes Werken den Weimar-Goethe nennen oder gar den Weimar Goethe (ohne Bindestrich).


Zweifelsfall

Wortbildung oder Syntagma

Beispiel
Bezugsinstanz Leipzig, Gesprochene Sprache, Niederselters, Sprache der Kunst, Fachsprache (Archäologie), alt, 19. Jahrhundert, Sprachverlauf, Goethe - Johann Wolfgang, Schiller - Friedrich
Bewertung

Geschmacklosigkeit, Roheit, ganz überflüssig, fürchterlich, plumpe Fäuste unsrer Sprachneuerer

Intertextueller Bezug