Singen gehört oder singen hören?
Buch | Wustmann (1903): Allerhand Sprachdummheiten. Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen |
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Seitenzahlen | 58 - 60 |
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Unsicherheit |
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In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle
Behandelter Zweifelfall: | |
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Genannte Bezugsinstanzen: | 15. Jahrhundert, Lenau - Nikolaus, Gegenwärtig, Alt, Goethe - Johann Wolfgang, Schriftsprache, Zeitungssprache, Berlin |
Text |
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Eine der eigentümlichsten Erscheinungen unsrer Sprache, die dem Ausländer, der Deutsch lernen will, viel Kopfzerbrechen macht, wird mit der Frage berührt, ob es heiße: ich habe dich singen gehört oder singen hören? $Seite59$ Bei den Hilfszeitwörtern können, mögen, dürfen, wollen, sollen und müssen und bei einer Reihe andrer Zeitwörter, die ebenfalls mit dem Infinitiv verbunden werden, wie heißen, lehren, lernen, helfen, lassen (lassen in allen seinen Bedeutungen: befehlen, erlauben und zurücklassen), machen, sehen, hören und brauchen (brauchen im Sinne von müssen und dürfen) ist schon in früher Zeit das Partizipium der Vergangenheit, namentlich wenn es unmittelbar vor dem abhängigen Infinitiv stand (der Rat hat ihn geheißen gehen), durch eine Art von Versprechen mit diesem Infinitiv verwechselt und vermengt worden. In der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts heißt es bunt durcheinander: man hat ihn geheißen gehen und heißen gehen, und passiv: er ist geheißen gehen, er ist heißen gehen, er ist geheißen zu gehen, ja sogar er ist gegangen heißen. Schließlich drang an der Stelle des Partizips der Infinitiv vollständig durch, namentlich dann, wenn der abhängige Infinitiv unmittelbar davor stand, und so sagte man nun allgemein: ich habe ihn gehen heißen, ich habe ihn tragen müssen, ich habe ihn kommen lassen, ich habe ihn kennen lernen, ich habe ihn laufen sehen, ich habe ihn rufen hören, er hat viel von sich reden machen (Goethe im Faust: ihr habt mich weidlich schwitzen machen), du hättest nicht zu warten brauchen).//* Bei brauchen darf natürlich zu beim Infinitiv nicht fehlen. So arg hätte es in dem Hauptgebäude der Ausstellung nicht durchregnen brauchen — ist Berliner Zeitungsdeutsch// Das merkwürdigste ist, daß bei vieren von diesen Zeitwörtern der abhängige Infinitiv ebenfalls erst durch ein Mißverständnis aus dem Partizip entstanden ist, nämlich bei hören, sehen, machen und lassen: ich höre ihn singen, ich mache ihn schwitzen, ich lasse ihn liegen ist ja entstanden aus: ich höre ihn singend, ich mache ihn schwitzend, ich lasse ihn liegend.//* Ebenso bei bleiben und haben: er ist sitzen geblieben (eigentlich: sitzend) — ich habe tausend Mark auf dem Hause stehen (eigentlich: stehend) — hat keiner einen Bleistift einstecken? (eigentlich: einsteckend). Lenau: Drei Zigeuner fand ich einmal liegen $Fußnote auf nächster Seite fortgeführt$ an einer Weide. In der ältern Zeit schrieb man sogar: ein Büchlein, das man in Kirchen gebrauchen ist (statt gebrauchend) — wir sind euch dafür danken (statt dankend)//) In der $Seite60$ Verbindung also: ich habe ihn singen hören sind, so wunderbar es klingt, zwei Partizipia, eins der Gegenwart und eins der Vergangenheit, durch bloßes Mißverständnis zu Infinitiven geworden! Diese merkwürdige Erscheinung ist aber nun durch jahrhundertelangen Gebrauch in unsrer Sprache so eingebürgert, und sie ist uns so vertraut und geläufig geworden, daß es gesucht, ungeschickt, ja geradezu fehlerhaft erscheint, wenn jemand schreibt: ich habe sie auf dem Balle kennen gelernt — Dozent auf der Hochschule hatte ich werden gewollt (behüt dich Gott! es hat nicht sein gesollt!) — er hatte ein Mädchen mit einem Kinde gewissenlos sitzen gelassen — wir haben die Situation kommen gesehen — über diesen Versuch hat er nie Reue zu empfinden gebraucht — du hast mir das Verständnis erschließen geholfen usw. Wer sich ungesucht ausdrücken will, bleibt beim Infinitiv, ja er dehnt ihn unwillkürlich gelegentlich noch auf sinnverwandte Zeitwörter aus und schreibt: wir hätten diese Schuld auch dann noch auf uns lasten fühlen (statt: lasten gefühlt). Kommen zwei solche Hilfszeitwörter zusammen, so hilft es nichts, und wenn sich der Papiermensch noch so sehr darüber entsetzt: es stehn dann drei Infinitive nebeneinander: wir hätten den Kerl laufen lassen sollen, laufen lassen müssen, laufen lassen können. Klingt wundervoll und ist — ganz richtig. |
Zweifelsfall | |
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Beispiel | |
Bezugsinstanz | 15. Jahrhundert, alt, Berlin, alt, gegenwärtig, Goethe - Johann Wolfgang, Schriftsprache, alt, Lenau - Nikolaus, Zeitungssprache |
Bewertung |
eigentümlich, merkwürdig, wunderbar, gesucht, ungeschickt, ja geradezu fehlerhaft, wundervoll, ganz richtig |
Intertextueller Bezug |