Wustmann(1903) Gesichtspunkt: Unterschied zwischen den Versionen
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|KapitelText=Ein Modewort, mit dem ein ganz unsinniger Mißbrauch getrieben wird, der zu einer Masse von Bildervermengungen führt, ist ''Gesichtspunkt''. Das Wort bedeutet den Punkt, von dem aus man etwas ansieht, wie ''Standpunkt'' den Punkt, auf den man sich gestellt hat, um etwas anzusehen. Beides ist so ziemlich dasselbe. Man sollte doch nun meinen, das Bild, das in diesen Ausdrücken liegt, wäre so klar und deutlich, daß es gar nicht vergessen werden könnte: ''Standpunkt'' und ''Gesichtspunkt'' bedeuten durchaus etwas Räumliches, einen Punkt im Raume. Da ist es nun schon verkehrt, wie es manche sehr lieben, von ''großen'' oder ''allgemeinen'' $Seite 376$ ''Gesichtspunkten'' zu reden. Man kann sich weder unter einem ''großen'' noch unter einem ''allgemeinen Punkt'' etwas denken. Offenbar wird hier der ''Gesichtspunkt'' mit dem ''Gesichtskreise'' verwechselt. Wenn ich mich hoch aufstelle und die Dinge von oben betrachte, so überblicke ich mehr, als wenn ich unten mitten unter den Dingen stehe. Es ändert sich dann auch der Maßstab der Betrachtung; was mir unten groß, im übertragnen Sinne: wichtig, bedeutend erschien, schrumpft zusammen, ja verschwindet vielleicht ganz, wenn ich es von oben betrachte. Man kann also wohl von ''hohen'' und ''niedrigen Gesichtspunkten'' reden, aber nicht von ''großen'' und ''kleinen''. Der ''Geist'' ist ''klein'', der sich nicht zu ''höhern Gesichtspunkten'' aufschwingen kann, auch der ''Gesichtskreis eines solchen Geistes ist klein'', aber ein Punkt ist und bleibt ein Punkt, er kann weder ''klein'' noch ''groß'' sein. | |KapitelText=Ein Modewort, mit dem ein ganz unsinniger Mißbrauch getrieben wird, der zu einer Masse von Bildervermengungen führt, ist ''Gesichtspunkt''. Das Wort bedeutet den Punkt, von dem aus man etwas ansieht, wie ''Standpunkt'' den Punkt, auf den man sich gestellt hat, um etwas anzusehen. Beides ist so ziemlich dasselbe. Man sollte doch nun meinen, das Bild, das in diesen Ausdrücken liegt, wäre so klar und deutlich, daß es gar nicht vergessen werden könnte: ''Standpunkt'' und ''Gesichtspunkt'' bedeuten durchaus etwas Räumliches, einen Punkt im Raume. Da ist es nun schon verkehrt, wie es manche sehr lieben, von ''großen'' oder ''allgemeinen'' $Seite 376$ ''Gesichtspunkten'' zu reden. Man kann sich weder unter einem ''großen'' noch unter einem ''allgemeinen Punkt'' etwas denken. Offenbar wird hier der ''Gesichtspunkt'' mit dem ''Gesichtskreise'' verwechselt. Wenn ich mich hoch aufstelle und die Dinge von oben betrachte, so überblicke ich mehr, als wenn ich unten mitten unter den Dingen stehe. Es ändert sich dann auch der Maßstab der Betrachtung; was mir unten groß, im übertragnen Sinne: wichtig, bedeutend erschien, schrumpft zusammen, ja verschwindet vielleicht ganz, wenn ich es von oben betrachte. Man kann also wohl von ''hohen'' und ''niedrigen Gesichtspunkten'' reden, aber nicht von ''großen'' und ''kleinen''. Der ''Geist'' ist ''klein'', der sich nicht zu ''höhern Gesichtspunkten'' aufschwingen kann, auch der ''Gesichtskreis eines solchen Geistes ist klein'', aber ein Punkt ist und bleibt ein Punkt, er kann weder ''klein'' noch ''groß'' sein. | ||
Aktuelle Version vom 23. April 2018, 10:44 Uhr
Buch | Wustmann (1903): Allerhand Sprachdummheiten. Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen |
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Seitenzahlen | 375 - 378 |
Nur für eingeloggte User:
Unsicherheit |
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In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle
Behandelter Zweifelfall: | |
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Genannte Bezugsinstanzen: | Sprache der Werbung, Gesprochene Sprache |
Text |
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Ein Modewort, mit dem ein ganz unsinniger Mißbrauch getrieben wird, der zu einer Masse von Bildervermengungen führt, ist Gesichtspunkt. Das Wort bedeutet den Punkt, von dem aus man etwas ansieht, wie Standpunkt den Punkt, auf den man sich gestellt hat, um etwas anzusehen. Beides ist so ziemlich dasselbe. Man sollte doch nun meinen, das Bild, das in diesen Ausdrücken liegt, wäre so klar und deutlich, daß es gar nicht vergessen werden könnte: Standpunkt und Gesichtspunkt bedeuten durchaus etwas Räumliches, einen Punkt im Raume. Da ist es nun schon verkehrt, wie es manche sehr lieben, von großen oder allgemeinen $Seite 376$ Gesichtspunkten zu reden. Man kann sich weder unter einem großen noch unter einem allgemeinen Punkt etwas denken. Offenbar wird hier der Gesichtspunkt mit dem Gesichtskreise verwechselt. Wenn ich mich hoch aufstelle und die Dinge von oben betrachte, so überblicke ich mehr, als wenn ich unten mitten unter den Dingen stehe. Es ändert sich dann auch der Maßstab der Betrachtung; was mir unten groß, im übertragnen Sinne: wichtig, bedeutend erschien, schrumpft zusammen, ja verschwindet vielleicht ganz, wenn ich es von oben betrachte. Man kann also wohl von hohen und niedrigen Gesichtspunkten reden, aber nicht von großen und kleinen. Der Geist ist klein, der sich nicht zu höhern Gesichtspunkten aufschwingen kann, auch der Gesichtskreis eines solchen Geistes ist klein, aber ein Punkt ist und bleibt ein Punkt, er kann weder klein noch groß sein. Was muß sich aber der Gesichtspunkt sonst noch alles gefallen lassen! Er wird nicht nur berührt, dargelegt, ausgeführt, er wird auch beachtet, ins Auge gefaßt, betont, hervorgehoben, geltend gemacht, aufgestellt, herausgestellt, in den Vordergrund gestellt, zur Diskussion gestellt, verworfen, er wird eröffnet, zu Grunde gelegt, gewonnen, er wird in die Wagschale geworfen, und zwar so, daß er ins Gewicht fällt, er ist maßgebend, er berührt sich mit etwas, man tut etwas unter ihm, es wird etwas von ihm abgeleitet, es entspringt ihm etwas usw. Der Leser schüttelt den Kopf? Hier sind die Beispiele: zum Schluß möchte ich noch zwei Gesichtspunkte berühren — er legte die Gesichtspunkte dar, die den Ausschuß veranlaßt hätten, die Versammlung zu berufen — es würde mich zu weit führen, wenn ich den angedeuteten Gesichtspunkt näher ausführen wollte — die Prügelstrafe ist nicht nur brutal, sie ist auch ehrenrührig, und diesen wichtigen Gesichtspunkt muß man vor allen Dingen beachten — diesen Gesichtspunkt faßte Kurfürst August jetzt ins Auge — als der Redner diesen Gesichtspunkt scharf betonte — erfreulich ist es, daß der Herzog für das Gefühl vaterländischer Ehre empfänglich ist und bei der Berück- $Seite 377$ sichtigung der Muttersprache diesen Gesichtspunkt besonders hervorhebt — neue Gesichtspunkte wurden in der Debatte nicht geltend gemacht — es sind hier Gesichtspunkte aufgestellt, die in der Tat zur Diskussion gestellt werden müssen — er wußte immer sofort die höhern Gesichtspunkte herauszustellen — man kann den Mittelstand sehr verschieden abgrenzen, je nach den Gesichtspunkten, die man in den Vordergrund stellt — auch der Gesichtspunkt, daß (!) man mit einer stattlichen Schrift dem Auslande imponieren müsse, ist nicht zu verwerfen — diese Bestimmung eröffnet für die Geschichte der Innung einen neuen Gesichtspunkt — überhaupt möchten wir auf den Gesichtspunkt hinweisen, den alle Gerichte ihren Rechtsprechungen auf diesem Gebiete zugrunde zu legen haben — ich hoffe, daß sich aus meiner Darlegung gesunde(!) Gesichtspunkte werden gewinnen lassen — hier fallen finanzielle (!) Gesichtspunkte schwer ins Gewicht — diese Frage bildet den maßgebenden Gesichtspunkt, von dem aus wir dem Problem näher treten — dieser Gesichtspunkt der Theaterdirektion berührt sich in mannigfacher Beziehung mit dem Interesse des Publikums — der Theologie wandte er nur unter dem Gesichtspunkte, jederzeit brauchbare Kirchendiener zu haben, seine Fürsorge zu — die allgemeinen Gesichtspunkte, aus denen sich der kritische Vorrang der Originaldrucke lutherischer Schriften ableiten läßt, sind folgende — eine innere Kolonisation, die den oben gekennzeichneten Gesichtspunkten entspringt usw. In allen diesen Sätzen ist von dem Bilde, das in dem Worte Gesichtspunkt liegt, keine Spur mehr zu finden. Es bedeutet etwas ganz andres, es steht für Umstand, Tatsache, Grund, Ansicht, Gedanke, ja bisweilen steht es für gar nichts, es wird als bloßes Klingklangwort gebraucht. Oder bedeutet der Satz: neue Gesichtspunkte wurden nicht geltend gemacht — irgend etwas andres als: neue Gedanken wurden nicht vorgebracht? der Satz: zum Schluß möchte ich noch zwei Gesichtspunkte berühren — irgend etwas andres als: zum Schluß möchte ich noch zweierlei berühren? Das $Seite 378$ völkerpsychologische Moment (!) ist für ihn der maßgebende Gesichtspunkt — kann man einen ganz einfachen und einfach auszudrückenden Gedanken in einen unsinnigern Wortschwall einhüllen? Von solchen Sätzen wimmelt es aber jetzt in Büchern, Broschüren und Aufsätzen; Tausende lesen darüber weg, haben das dumpfe Gefühl, irgend etwas gelesen zu haben, aber denken können sie sich gar nichts dabei. Infolge des fortwährenden Mißbrauchs ist es geradezu dahin gekommen, daß dieses gute Wort, das ein so klares und deutliches Bild enthält, und das bisweilen gar nicht zu entbehren ist, einen lächerlichen Beigeschmack angenommen hat, sodaß man es in der Unterhaltung kaum noch anders als spöttisch gebrauchen kann. Eine weitere Folge ist, daß nun gewisse Leute, um das Wort zu vermeiden, es neuerdings durch Gesichtswinkel ersetzt haben, das freilich gleich von vornherein mit Recht dem Spott verfallen ist. Wie es scheint, wird übrigens bald derselbe Unfug wie mit dem Gesichtspunkt auch mit dem Standpunkt getrieben werden. Schon fängt man an, Wörter wie Annahme, Ansicht, Meinung, Überzeugung alle durch Standpunkt zu ersetzen und zu schreiben: ich stehe auf dem Standpunkte, daß man dieses Verbot wieder aufheben sollte — ich stehe auf dem Standpunkte, daß man zwischen Berlin und Leipzig ohne Umsteigen fahren können müßte — der Standpunkt, daß ein Reisender, der auf derselben Linie zurückfährt, durch eine Preisermäßigung belohnt werden müsse, ist ein (!) völlig antiquierter. |
Zweifelsfall | |
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Beispiel | |
Bezugsinstanz | Sprache der Werbung, Gesprochene Sprache |
Bewertung |
unsinniger Mißbrauch, verkehrt, unsinniger Wortschwall, lächerlicher Beigeschmack, Unfug |
Intertextueller Bezug |