Ein Fehler, der die mannigfachsten Spielarten zeigt, obwohl er im Grunde immer derselbe ist, entsteht durch jene äußerliche Auffassung der Sprache, die nicht nach Sinn und Bedeutung, sondern nur nach dem Lautbilde der Wörter fragt. Kehrt dasselbe Lautbild wieder, so glaubt es der Papiermensch das zweitemal ohne weiteres unterdrücken zu dürfen, obwohl es dieses zweitemal viel- leicht einen ganz andern Sinn hat als das erstemal. Eine Abart dieses Fehlers ist schon früher besprochen worden: die Vernachlässigung des Kasuswechsels beim Relativpronomen (S. 129). Hierher gehört es aber auch, wenn man einen Fügewortsatz oder Fragesatz zugleich als Objekt und als Subjekt verwendet, z. B. daß der Verfasser ein Jurist ist, kann man mit Händen greifen, hält ihn jedoch nicht ab — ob das Wort schon früher in Gebrauch war, wagen wir nicht festzustellen, ist auch ohne Belang. Oder wenn man ein Zeitwort gleich- zeitig als selbständiges Zeitwort (oder Kopula) und als Hilfszeitwort verwendet und schreibt: er hatte sich aus kleinen Verhältnissen emporgearbeitet und wirklich das Zeug zu einem tüchtigen Künstler — er war vor $Seite 280$ kurzem erst ins Dorf gezogen und ein kleiner, kugel- runder Mann//* ©oidje tlularnmeitjicfjungen geben deitiobe auf derieibeit Stufe, wie die Setamtien sdlecjbafteu Sotwerinnbungm: geo- und aritd- metifct) — teils aus grimmig-, teils jum lieitbertveid — der deuiige Sag wird ntir ewig deitt- und gegenwärtig Meiden,// — er wurde später sächsischer Mi- nister und in den Freiherrnstand erhoben — oder gar: wenn ein Grenzstein verrückt oder unkenntlich ge- worden ist (anstatt: verrückt worden oder unkennt- lich geworden) — glauben Sie nicht, daß eine Er- rungenschaft darin liegen würde, wenn Frauen medi- zinisch gebildet und praktizieren würden? (anstatt: gebildet würden und praktizierten). Ferner wenn man ein persönliches Fürwort zugleich als Dativ und als Akkusativ verwendet, z. B. sich stets betastend und die
Hände reichend — die Gelegenheit, sich kennen zu lernen, bezw. (!) näher zu treten — kurz alle Fälle, wo ein Wort gleichzeitig in zwei verschiednen Auffassungen gebraucht wird, also auch z. B.: die Pferde stürzten so unglücklich, daß die Deichsel brach, das eine Pferd aber den Oberschenkel — er war darauf angewiesen, sein Leben, an das er große Ansprüche machte, durch erbitterten Kampf gegen die Konkurrenz zu gewinnen (wo Leben das einemal als Lebensweise, das andre- mal als Lebensunterhalt gemeint ist).
Eine der häufigsten, aber auch widerwärtigsten Spiel- arten dieses groben logischen Fehlers ist es, ein Femi- ninum und einen Plural unter demselben Artikel, Für- wort oder Adjektivum zusammenzukoppeln (vgl. englisch: the life and times) und zu schreiben: die Höhe und Formen des Gitters — die Umrahmung und Seiten- flügel des Altarbildes — die Metalle und Spektral- analyse — die Verbreitung und Ursachen der Lungenschwindsucht — die Stellung und Ansprüche des Zentrums — die Sicherung der Post und Trans- porte — die Analyse der Gestalten und Kunst Shake- speares — Handbuch der Staatswissenschaften und Politik— das Gebiet der Mathematik und Natur- wissenschaften — die Angaben der Bevölkerungs- dichtigkeit und Temperaturverhältnisse — seine $Seite 281$ Reue und Gewissensbisse — im Kreise seiner Gattin und Kinder — durch ihre Daten und Hin- gebung — eine Darstellung ihrer Schicksale und Bauart — die Bühne, die keine Dekoration und Kulissen kannte — die Gegner der deutschen Land- wirtschaft und Getreidezölle — zur Erforschung vaterländischer Sprache und Altertümer.//* Vollends arg sind natürlich Zusammenziehungen wie: unsre Arbeit und Streben — gute Küche und Keller. Über solche Sudelei ist kein Wort zu verlieren; für sie gibt es auch keinen Schein von Entschuldigung.//
Aber auch da, wo Geschlecht und Numerus zweier Begriffe dieselben sind, ist es eine grobe Nachlässigkeit, sie unter einem Artikel unterzubringen und zu schreiben: die Zustimmung des Bundesrats und Reichs-
kanzlers — der Direktor der Bürger- oder Be- zirksschule — eine Sitzung des Bau-, Ökonomie- und Finanzausschusses — ein Ausflug nach dem Süßen und Salzigen See — das alte und neue Buchhändlerhaus — die katholische und evan- gelische Kirche — der Renaissance- und Barock- stil — das sächsische und schlesische Gebirge — die religiöse und weltliche Poesie der Juden — die weiße und rote Rose — das Sol- und See- bad — der Wert der klassischen und modernen Sprachen — meiner innig geliebten Mutter und Großmutter gewidmet — die Knochen waren nicht die Überreste eines Frauen- und Kinderskeletts, son- dern eines Ferkel- und Kaninchengerippes! Auch in diesen Fällen muß der Artikel unbedingt wiederholt werden; wird er nur einmal gesetzt, so erweckt das die Vorstellung, als ob sichs nur um einen Begriff handelte. Niemand kann erraten, daß der Bau-, Ökonomie- und Finanzausschuß drei verschiedne Ausschüsse sind. Der König von Preußen und Kaiser von Deutsch- land — das ist richtig, denn beides ist dieselbe Person: ebenso richtig kann sein: die Direktoren der Bezirks- oder Armenschulen, wenn Bezirksschule und Armen- schule nur verschiedne Namen für dieselbe Schulgattung sind. $Seite 282$ Die Nachlässigkeit wird um so störender, wenn durch das im Plural stehende Prädikat oder auf irgend eine andre Weise noch besonders deutlich fühlbar gemacht
wird, daß es sich um mehrere Begriffe handelt, z. B.: der deutsche Handel war bedeutender als der englische und amerikanische zusammen — der Nominativ und Vokativ sind eigentlich keine Kasus — die erste und letzte Strophe zerfallen in zwei Hälften — der lyrische und epische Dichter bedürfen dieses
Mittels nicht — 1830 starben der Bruder und Vater — westlich davon stehen die Thomas- und Matthäikirche — an der Nordseite befinden sich der Dresdner, Magdeburger und Thüringer Bahnhof — zwischen(!) dem 13. und 15. Grade südlicher Breite — der Unterschied zwischen (!) den staatlichen und kirchlichen Einrichtungen — wo ist
die Grenze zwischen (!) der Wahrheit, die man mit- teilen, und [der!], die man nicht mitteilen darf — die deutsche Umgangssprache schwankt zwischen dem Extrem barscher Kürze und bedientenhafter Redseligkeit. Wie kann etwas „zwischen" einem Grade liegen, zwischen einem Extrem schwanken?
Bei mehr als zwei Gliedern kann die sorgfältige Wiederholung des Artikels freilich etwas schleppendes bekommen, und wo mehr Reihe gebildet als gegen- übergestellt wird, da schreibe man getrost: mit den Ge- ruchs-, Geschmacks- und Gefühlsnerven, die Ge- wohnheiten des Fastens, Beichtens und Betens, ein Schatz des Wahren, Guten und Schönen. Wo aber unterschieden und gegenübergestellt wird, da muß
auch der Artikel wiederholt werden. Darum steht auch auf dem Titelblatte dieses Buches: Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häß- lichen, denn jeder dieser drei Begriffe bezeichnet eine ganz andre Art von Fällen. Manche glauben genug zu tun, wenn sie den Artikel bei einem Wechsel des Ge- schlechts wiederholen, und schreiben: die Gelübde der
Armut, Keuschheit und des Gehorsams. Ganz irrig! Die Gleichmäßigkeit verlangt den Artikel bei jedem Gliede der Reihe. $Seite 283$
Kein grammatischer, aber ein grober Denkfehler liegt vor in Verbindungen wie: Lager von Schneider- und
Schuhartikeln — Fabrik von Bambus-, Luxus- und Rohrmöbeln. Der Schneider kann nicht den Schuhen, Bambusrohr nicht dem Luxus gegenübergestellt werden; Bambus und Rohr geben den Stoff an, Luxus den Zweck (oder die Zwecklosigkeit).
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