Schulze-Naumburg und Müller-Meiningen
Buch | Wustmann (1903): Allerhand Sprachdummheiten. Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen |
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Seitenzahlen | 195 - 197 |
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Unsicherheit |
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In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle
Behandelter Zweifelfall: | |
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Genannte Bezugsinstanzen: | Neu, Gesprochene Sprache, Schriftsprache, Zeitungssprache, Sprache der Politik |
Text |
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Eine andre Abgeschmacktheit, auf die nicht bloß Zeitungschreiber, sondern auch Leute, denen man in Sprachdingen etwas Geschmack zutrauen sollte, ganz versessen $Seite 196$ sind, ist die Unsitte, an einen Personennamen den Wohnort der Person mit Bindestrichen anzuhängen, anstatt ihn durch die Präposition in oder aus damit zu verbinden und so ein ordentliches Attribut zu schaffen. Den Anfang dazu haben Leute wie Schulze-Delitzsch, Braun-Wiesbaden u. a. gemacht; die wollten und sollten durch solches Anhängen des Ortsnamens von einem andern Schulze und einem andern Braun unterschieden werden. Das waren nun ihrer Zeit gefeierte Parlamentsgrößen, und wer möchte das nicht auch gern sein! Wenn sich daher im Sommer Gevatter Schneider und Handschuhmacher zu den üblichen Wanderversammlungen aufmachen und dort schöne Reden halten, so möchten sie natürlich auch die Parlamentarier spielen und dann im Zeitungsbericht mit so einem schönen zusammengesetzten Namen erscheinen, sie möchten nicht bloß Müller und Meyer heißen, sondern Herr Müller-Rumpeltskirchen und Herr Meyer-Cunnewalde — das klingt so aristokratisch, so ganz wie Bismarck-Schönhausen, es könnte im freiherrlichen Taschenbuche stehen; man hats ja auch den geographischen Adel genannt. Der Unsinn geht so weit, daß man sogar schreibt: Direktor Wirth-Plötzensee bei Berlin. Was ist denn bei Berlin? Direktor Wirth-Plötzensee? Die ganze dumme Mode ist wieder ein Pröbchen unsers schönen Papierdeutsch. Man höre nur einmal zu, wenn in einer solchen Wanderversammlung die sogenannte Präsenzliste verlesen wird: hört man da je etwas andres als Städtenamen? Man möchte gern wissen, wer anwesend ist, aber man kann es beim besten Willen nicht erfahren, denn der Vorlesende betont unwillkürlich — wie man solche traurige Koppelnamen nur betonen kann —: Herr Stieve-München, Herr Prutz-Königsberg, Herr Ulman-Greifswald. Der Personenname geht vollständig verloren. Wenn dann die Zeitungen über eine solche Versammlung berichten, so drucken sie zwar den Personennamen gesperrt oder fett: Herr S t i e v e -München oder Herr Stieve-München. Das hilft aber gar nichts; gesprochen wird doch: Stieve-München ( ). Dieser fett gedruckte und doch unbetonte $Seite 197$ Personenname, dieser grobe Widerspruch zwischen Papiersprache und Ohrensprache, ist geradezu ein Hohn auf den gesunden Menschenverstand. Will man beide Namen betonen, so bleibt nichts weiter übrig, als eine Pause zu machen, etwa als ob geschrieben wäre: Herr Stieve (München). Dann hat man aber doch auch Zeit, die Präposition auszusprechen. In neuester Zeit hat man angefangen, auch Fluß- und Bergnamen auf diese Weise an Städtenamen anzuleimen; man schreibt: Halle-Saale (Statt Halle a. d. Saale), Frankfurt-Main, Essen-Ruhr, Frankenhausen-Kyffhäuser. Das eröffnet schöne Aussichten! |
Zweifelsfall | |
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Beispiel | |
Bezugsinstanz | Zeitungssprache, Sprache der Politik, gesprochene Sprache, neu, Schriftsprache |
Bewertung |
Abgeschmacktheit, Unsinn, ein Hohn auf den gesunden Menschenverstand |
Intertextueller Bezug |