Das Hilfszeitwort 5. Das Hilfszeitwort *2
Buch | Engel (1922): Gutes Deutsch. Ein Führer durch Falsch und Richtig. |
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Seitenzahlen | 239 - 241 |
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Unsicherheit |
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In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle
Behandelter Zweifelfall: | |
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Genannte Bezugsinstanzen: | 20. Jahrhundert, Fachsprache (Technik), Gebildete, Kindersprache, Ludwig III. von Bayern, Schopenhauer - Arthur, Schweiz, Gegenwärtig, Goethe - Johann Wolfgang, Mitteldeutsch, Mundart, Norddeutsch, Schiller - Friedrich, Schriftsprache, Süddeutsch, Bayern, Österreich, Literatursprache, Wissenschaftssprache, Familie, Umgangssprache, Adel |
Text |
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Eine jeden denkbaren Zweifelfall behandelnde Darstellung des Gebrauchs von Haben und Sein in der Vollvergangenheit des Zeitwortes ist kaum möglich, zum Glück aber hier entbehrlich, weil das Sprachgefühl für die Unterscheidung zwischen beiden im allgemeinen ziemlich sicher ist, — mit einer Ausnahme: in Süddeutschland, Österreich und der Schweiz herrscht Sein bei den Zeitwörtern des Stehens, Gehens, Sitzens und ähnlichen nicht nur in der Umgangs-, sondern selbst in der Schriftstellersprache nahezu allein, wogegen in Nord- und Mitteldeutschland bei jenen Zeitwörtern fast ausschließlich Haben steht. In der Drahtung des Königs Ludwigs 3. von Bayern vom 4. August 1914 an Kaiser Wilhelm 2. heißt es: ,Nie ist das Deutsche Reich vor einer ernsteren Entscheidung gestanden als in dieser Stunde.' Ein norddeutscher Fürst hätte hat geschrieben. — Goethe: ,Ich bin die Stadt umfahren und umgangen.' — Schiller: ,Ich bin vor hohen Fürsten nicht gestanden.' Schopenhauer wetterte auf seine Art gegen den ,groben, hauptsächlich in süddeutscher Schreibart grassierenden Schnitzer'. Die heutige Sprachbetrachtung, wenigstens die wahrhaft wissenschaftliche, stellt sich zu dieser Frage wie zu vielen andern nachsichtiger; sie erkennt eine weitverbreitete landschaftliche Fügung, gibt ihr das Recht für die Umgangsprache, auch die gebildetste, ja sie ist sehr nachsichtig gegen sie in der Schriftsprache, da kein in allen Fällen sichrer Gebrauch bei nichtsüddeutschen Schriftstellern besteht. Schwankungen zwischen avoir und etre gibt es ja auch in dem sonst soviel unfreieren Französisch. Im Deutschen walten Zweifel, ob Haben oder Sein, fast nur bei den ziellosen Zeitwörtern; die zielenden und rückbezüglichen werden fast nur mit Haben abgewandelt, und auch bei den ziellosen betreffen die meisten Zweifel die Zeitwörter der Bewegung oder eines Zustandes vor oder nach der Bewegung. Daß es nur heißen darf: ,Ich habe gedient, gelebt, gehorcht' , nur: ,Er ist gestorben, er ist angelangt' ist außer Zweifel; Schwankungen kommen nur vor in Fällen wie: ,Ich bin gesessen' oder ,Ich habe gesessen' , ,Ich habe $Seite 240$ gesprungen' oder ,Ich bin gesprungen' , ,Ich bin gestanden' oder ,Ich habe gestanden' , ,Ich habe geschwommen' oder ,Ich bin geschwommen' . Bei den Zeitwörtern der Bewegung ist Sein die Regel, Haben die Ausnahme, doch mit der Umschränkung: die ziellose Bewegung bevorzugt Haben, die mit einem Ziel Sein. ,Ich habe heute gut geschwommen' : allgemeine Bezeichnung der Bewegungstätigkeit, der Beschäftigung; aber: ,Ich bin über den Strom geschwommen.' ,Ich habe nur so ein bißchen geschwommen; aber: ,Ich bin ans Ufer geschwommen.' ,Ich habe im Zimmer getanzt, Ich habe zwei Stunden lang getanzt, Ich bin durchs Zimmer getanzt, Ich bin aus einem ins andre Zimmer getanzt.' Also bei Ortsveränderung vorwiegend Sein, bei gleichbleibendem Ort vorwiegend Haben. ,Ich habe lange auf dem Berge gestanden, gesessen, geruht' ; aber ,Ich bin auf den Berg gestiegen, bin auf dem Gipfel niedergekniet, bin nach Verweilen jetzt geruht, bin niedergestiegen, — Ich bin zweimal ums Ziel gefahren; Ich habe (daneben auch: bin) heute drei Stunden gefahren, gestern nur zwei. — Das Wasser ist aus der Tonne gelaufen; Die lecke Tonne hat gelaufen'. ,Er hatte (daneben war) viel in der Schweiz gereist' (geschäftlich, dauernde Beschäftigung ohne besondern Gedanken an die Bewegung). — ,Er ist von Berlin nach der Schweiz gereist. — Er ist in die Ostschweiz gereist. — Ich bin schnell um die Ecke gelaufen. — Ich habe heute eine Stunde Schlittschuh gelaufen. — Ich bin über den Bach gesprungen. — Ich habe heute (in der Turnstunde) gut (zur Zufriedenheit des Lehrers) gesprungen. — Die Leiche hatte lange im Strom getrieben und war nun endlich ans Ufer getrieben.— Was hast du heute getan? Ich habe geritten, und zwar bin ich nach Potsdam geritten. — Sie war vor ihm niedergekniet und hatte dort lange gekniet. — Er hatte lange vor ihm gekrochen (übertragen, knechtisch, daher ohne den Gedanken an die Bewegung); Er ist unter den Tisch gekrochen. — Wir haben heute zwei Stunden marschiert (auf und ab, zur Übung, ohne Ziel); Wir sind heute in zwei Stunden nach Berlin marschiert. — Ich habe gestern eine Stunde geradelt (mich im Radeln geübt, ohne Zielangabe); Ich bin in einer Stunde nach Potsdam geradelt. — Der Kutscher hat (uns) gut gefahren; Er ist mit uns nach den Linden gefahren. — Ich habe lange geschwankt, ob ich das tun solle.$Seite 241$ Ich bin durchs Zimmer, in die Ecke, geschwankt. — Ich habe nach meinem Sturz noch lange gehinkt. Ich bin nach Hause gehinkt, bin nachgehinkt' (aber doch nach einem Ziel, hinter einem Vordermann her). Bei den je nachdem zielenden oder ziellosen Zeitwörtern tritt der innere Unterscheidungsgrund am deutlichsten hervor: ,Ich habe ihn auf den Fuß getreten. Ich bin ihm zunahe getreten.' Folgen stets mit Sein, außer wo es ,gehorchen' bedeutet: ,Ich bin ihm gefolgt' ; aber die Mutter sagt zum Kinde: ,Du hast nicht gefolgt.' Bei andern als Bewegungszeitwörtern, mit ihrem Zubehör von Ausdrücken der Ruhe vor und nach der Bewegung, gilt der sinngemäßige Unterscheidungsgrund: je allgemeiner das Zeitwort, je weniger an den Anfang oder das Ziel gedacht wird, je ruhig zuständlicher, desto eher Haben. ,Der Wald hat stundenlang gerauscht; Die Dame hatte mit dem Fächer gerauscht; Sie war empört durchs Zimmer gerauscht. — Der Wein hat bei dem schönen Herbstwetter gut gereift und ist jetzt (am Ziel, kurz vor der Lese) gereift. — Es hat in der Nacht still getaut, und die Schneemassen sind jetzt getaut (weggetaut).' Der Verlauf der Handlung mit Haben, das fertige Ergebnis mit Sein. ,Das Feuer hat lange gebrannt; Das Feuer ist ausgebrannt. — Das Haus hat gebrannt; Das Haus ist ganz verbrannt. — Die Weinhändler haben aufgeschlagen; Die Weinpreise sind aufgeschlagen. — Er hat in den letzten Jahren gealtert; Er ist jetzt sehr gealtert.' Bei Sein mit folgendem zu ist Vorsicht nötig: ,Eine solche Sicherheit Deutschlands ist zu schaffen' was bedeutet dies? Ist sie erst noch zu schaffen, oder ist es möglich, sie zu schaffen? Eine Fehlerquelle einmal entdeckt, heißt für den denkenden Schreiber den Fehler vermeiden. |
Zweifelsfall | |
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Beispiel |
Goethe - Johann Wolfgang, Schriftsprache, Zeitungssprache |
Bezugsinstanz | 20. Jahrhundert, Bayern, Fachsprache (Technik), Adel, Gebildete, Goethe - Johann Wolfgang, gegenwärtig, Kindersprache, Ludwig III. von Bayern, Mundart, mitteldeutsch, Familie, norddeutsch, norddeutsch, Österreich, Schiller - Friedrich, Schopenhauer - Arthur, Schriftsprache, Literatursprache, Literatursprache, Schweiz, süddeutsch, süddeutsch, Umgangssprache, Umgangssprache, Wissenschaftssprache |
Bewertung |
aber, eher, fast nur, Fehler vermeiden, fehlerquelle, Frequenz/fast ausschließlich, Frequenz/im allgemeinen, Frequenz/weitverbreitet, grassierender Schnitzer (Schopenhauer), grob (Schopenhauer), ist außer Zweifel, ist Vorsicht nötig, kaum möglich, kein sichrer Gebrauch, meisten Zweifel, nur heißen darf, oder, Schwankungen, vorwiegend, ziemlich sicher, zum Glück entbehrlich, Zweifelfall |
Intertextueller Bezug | Schopenhauer |