Wortschatz und Wortform *10
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Buch | Engel (1922): Gutes Deutsch. Ein Führer durch Falsch und Richtig. |
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Seitenzahlen | 74 - 77 |
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Unsicherheit |
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In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle
Text |
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Bei keinem andern Zweifelfall kann man den Kampf zwischen den Sprachmeistern und dem Sprachgebrauch, d. h. der Sprache selbst, so deutlich beobachten wie bei dem sogenannten Binde-s (hoffnungsvoll, Liebeslust, Regierungsrat, Weihnachtsfest). Die Meisterer hassen es, gestatten es allenfalls nach männlichen und sächlichen Erstgliedern, verwerfen es zornig, verächtlich, hohnvoll nach weiblichen, weil sie es fälschlich für das s des Zweitfalls halten, das bei weiblichen Hauptwörtern ein Unfug sei. Das Binde-s, zumal das nach weiblichen Hauptwörtern, ist in den meisten Zusammensetzungen nicht Zweitfall-s, sondern ein der bequemeren Aussprache dienender Überleitungslaut, den die Sprache nach schwer ergründlichen Gesetzen — wenn überhaupt nach Gesetzen und nicht vielmehr Launen — einschiebt. In ordentlich, namentlich, wissentlich, wesentlich, allenthalben ist das t aus ähnlichem Grunde eingeschoben. Feste Regeln ohne jedwede Ausnahme fürs Binde-s gibt es nicht; einzig der überkommene und zurzeit herrschende Sprachgebrauch ist maßgebend für den, der gutes Deutsch nicht erklügeln, sondern belauschen und nachsprechen will. Die geschichtliche Sprachforschung hat einige Tatsachen festgestellt, die an sich wissenswert, aber nicht für den heutigen Sprachgebrauch entscheidend sind. Sie hat ermittelt, daß das Binde-s im ältesten und alten Deutsch sehr selten vorkommt; daß $Seite 75$ es nach weiblichen Wörtern bei Luther noch gar nicht, auch sonst bei ihm viel seltner steht als heute; daß es erst nach dem 17. Jahrhundert häufig wird. Für die Gegenwart können wir selber eine stete Zunahme beobachten. In den ältesten, festesten Zusammensetzungen fehlt es meist, wo es bei Neubildungen gewiß stehen würde: Augapfel, Mondschein, Regenbogen, Rathaus, Himmelreich, Schiffbruch; die mehr neuzeitlichen Schiffswerft und Himmelsgegend haben es. In Zusammensetzungen mit Wörtern auf .. er fehlt es fast immer: Kaiserkrone gegenüber Königskrone; Wunderglaube, Köhlerglaube gegenüber Volksglaube; Lasterhöhle, Räuberhöhle gegenüber Diebshöhle. Einige Regelmäßigkeit herrscht bei den Wörtern auf heit, keit, schaft, ung, tum, ling: sie bekommen weit überwiegend das s. Dagegen fehlt es zumeist bei Zusammensetzungen mit Stoffwörtern: Goldgrube, Goldstück, Erdhöhle, Giftbecher, Kornkeller, Kornblume, Weinberg, Weinlager, Bierglas, Haferfeld, Dunghaufen. Der Grund des Wohllauts trifft für das Binde-s nicht durchgehend zu: man sollte Mordstat, Kindstaufe, Lichtsträger, Nachtstisch, Nachtsträume, Marktstag erwarten, spricht aber mühelos die zusammenstoßenden Gleichlaute. Selbst gehäufte Zischlaute stören nicht einmal beim Sprechen: Geschichtsschreiber, Zufluchtsstätte, an Zahlungsstatt, Geburtsstadt, Mitternachtsstunde werden vielfach wirklich so gesprochen, erst recht so geschrieben. In vielen solcher Fälle lasse ich das Binde-s schon seit Jahren mit gutem Gewissen beim Schreiben weg. Die regellose Launenhaftigkeit des Binde-s zeigt sich an Wörtern wie Bluthund, Blutsfreund, Blutbund, blutarm, Blutsverwandtschaft, Hundswut, Hundepeitsche, Hundehütte, hundsgemein, Wortbruch, Vertragsbruch, Feuerwehr, Feuersbrunst, schrittweise, beispielsweise, kraftlos, hoffnungslos, Landrat, Landesrat (neu), Landgericht, Oberlandesgericht, Amtsgericht, Reichsgericht, Gewerbegericht, Handelsgericht, Werkzeug, Handwerkszeug, Ehrengericht, rechtmäßig, rechtswidrig (Kleist schreibt: Rechtgefühl), in Norddeutschland Mietsvertrag, in Süddeutschland Mietvertrag, rechtlos, lichtlos, rücksichtslos. In der Schweiz gibt es Erbsmasse, was aber nicht Erbsenbrei, sondern Erbesmasse bedeutet. Kalbleder, Schweinsleder, Rindleder, Schafleder, Kalbsbraten, Hammelbraten, Schweinebraten, Rinderbraten (neben Rindsbraten), Kalbsleber, $Seite 76$ Schweineleber, Kalbszunge, Rinderzunge, unheilvoll, Unheilstag. Wie soll man sich solchen Schwankungen gegenüber verhalten? Achtungsvoll, wie allen Launen der Sprache gegenüber: nicht besser wissen wollen als sie, nicht meistern, sondern einfach hinnehmen und gelten lassen. Nicht schimpfend losfahren: ,Das Widerwärtigste sind wohl die Zusammensetzungen mit Miets ...: das Mietshaus, die Mietskaserne, der Mietsvertrag.. Das Binde-s hinter einem Verbalstamm eingeschmuggelt!' Wer gibt dir Schimpfer das Recht, deine Muttersprache widerwärtig zu nennen? Und was geht die freischaltende Sprache dein Regelkram vom Verbalstamm oder Substantivstamm an? Die Sprache ist weiser als die Wohlweisesten, erfinderischer als die Findigsten: sie schafft sich selbst aus ihren Irrungen und Wucherungen neue Reichtumsquellen, unterscheidet fein zwischen Landsmann und Landmann, Wassernot (Not an Wasser), Wassersnot (Not durch Wasser); weiß sehr wohl, warum sie nebeneinander Hungersnot, Hungertod, Hungerjahr, Hungerleider sagt. Das Binde-s nach weiblichen Hauptwörtern hat man geschichtlich durch den Einfluß des Niederdeutschen erklärt. Hier geht uns nicht der Ursprung, sondern der gegenwärtige Zustand an, und der zeigt sich uns in Hunderten von Verbindungen wie: Hochzeitstag, Heiratsgut, Zukunftsmusik, ahnungsvoll, Liebesleib, Liebeslied, Liebeserklärung, Liebesdienst (neben Liebediener), liebeskrank (neben liebebebürftig, liebeleer, liebevoll), sehnsuchtsvoll, hilfsbereit (neben Hilfeleistung), Glücksfall (neben Glückwunsch). Jean Paul hat über die ,s-Krätze' gescholten und sie in einer der Ausgaben seiner Werke bis zur Unausstehlichkeit getilgt. In neuster Zeit hat M. Harden es ihm nachgetan, uns die Regierungform und den Regierungrat zugemutet, aber den Geburttag so wenig wie den Geburtstag gewagt. Der gesunde Sinn des deutschen Volkes hat alle solche querköpfige Gewaltsamkeiten lachend abgelehnt. In Österreich herrscht eine krankhafte Neigung, möglichst überall ein s einzuschmuggeln. Da gibt es die Fabrikantenstochter (sogar die Ochsenmaulsalatfabrikantenstochter) und die Erzeugerswitwe, den Fabriksbesitzer und die Reformsbestrebungen. Diesen und andern zweifelhaften oder kaum noch schwankenden Formen gegenüber verhalte man sich so, daß man die ohne s vorzieht, wo es schon eine neben der mit s gibt, und $Seite 77$ daß man sich bei Neubildungen möglichst ohne s behilft. Die Einschiebung des s ohne Not und deutlichen Grund hat einen Grad erreicht, der in langweilige Eintönigkeit ausartet, und diese zu steigern sollte keiner beitragen. Man schreibe also: unschuldvoll, inhaltvoll, inhaltreich, wahrheitliebend, Heimatkunst, Festlandmächte, Auslandhandel, denn diese Formen kommen schon im besten Deutsch vor, und man hüte sich, ,O neige, du schmerzenreiche' in ... ,schmerzensreiche' zu wandeln, wie oft geschieht, wo nur aus dem getrübten Gedächtnis angeführt wird. |
Zweifelsfall | |
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Beispiel | |
Bezugsinstanz | Schreiber guten Stils, Gegenwärtig, Sprachverlauf, Luther - Martin, 17. Jahrhundert, Alt, Norddeutsch, Süddeutsch, Niederdeutsch, Volk, Österreich |
Bewertung |
solche querköpfige Gewaltsamkeiten, langweilige Eintönigkeit, aus dem getrübten Gedächtnis |
Intertextueller Bezug | Jean Paul, M. Harden |