Übertreibung im Ausdruck

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Buch Matthias (1929): Sprachleben und Sprachschäden. Ein Führer durch die Schwankungen und Schwierigkeiten des deutschen Sprachgebrauchs.
Seitenzahlen 440 - 441

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Unsicherheit

In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle

Behandelter Zweifelfall:

Semantik: Steigerung

Genannte Bezugsinstanzen: Gegenwärtig, Alt, Gesprochene Sprache, Schriftsprache, Literatursprache, Zeitungssprache, Jensen - Wilhelm, Volk, Familie, Redewendung/Sprichwort, Adel
Text

Um anderseits das starke Auftragen recht zu fühlen, braucht man nicht erst eine Zeitung zur Hand zu nehmen, wo natürlich — leider schon natürlich! — ein Irrtum der von ihr befehdeten Parteien eine Verkehrtheit, eigene Ansichten derselben Verbrechen und Niedertracht heißen. Ebensowenig ist dazu die Lektüre verhimmelnder Besprechungen oder von Kundgebungen der Zustimmung und Anerkennung nötig; deren mit Superlativen nur so umsichwerfende Verfasser müssen gar nicht wissen, daß übermäßiges, auffällig oft und stark gespendetes Lob verdächtig klingt und schließlich den allein richtigen Maßstab verrückt, wonach das Gute nicht allein gut, sondern auch die Regel, das einzig Richtige und pflichtgemäße, das Schlimme aber nur vom Übel ist und eigentlich gar nicht sein sollte. Man kann sich die Unsitte des starken Auftragens sehr wohl schon an allgemein üblichen Wendungen vergegenwärtigen: eine Aussicht, die schön, umfassend, allenfalls gewaltig heißen könnte, muß heute bezaubernd, großartig, überwältigend oder echter deutsch faszinierend, grandios, superb genannt werden; eine ergreifende Darstellung ist heute eine packende, ein entschiedenes, bestimmtes Vorgehen ein schneidiges. Alles was klar ist, liegt auf der Hand, wenn schon es dort nimmer Platz findet, oder springt in die Augen, also vorgesehen $Seite 441$ und die Augen versichert! Worin sich einer widerspricht, damit straft er sich Lügen oder, der Tor! schlägt sich ins Gesicht. In den meisten Romanen lachen die Mädchen nicht mehr bloß hell, sondern silberhell, und werden nicht mehr bloß rot, sondern tiefdunkelrot, oder sie erglühen tiefdunkel. Oder man höre nur daheim bei den Seinigen herum oder lese eine Zeitung oder eine Erzählung, die Volksanschauung und -Sprechweise wiedergeben. Da wird man die einfachen gradbezeichnenden Zusätze viel, sehr, gar, ganz immer seltener und dafür immer öfter die ungeheuerlichsten Übertreibungen vernehmen. Ich las z. B. in Briefen und hörte es im Munde einer in adliger Familie tätigen Schwester nie anders, als daß sie die Grade auch der schönsten Eigenschaften nur noch mit schrecklich bestimmte und die Leute als schrecklich gut, schrecklich schön, schrecklich freundlich beschrieb. Andre haben sich dafür in fürchterlich schön, furchtbar interessant, toll lustig verliebt; und die sind noch weit zurück, welche statt sehr oder zu gütig nur arg gütig, ungemein gütig sagen. Bietet sich doch, da der Fuß, auf dem man lebt, nicht mehr groß genug sein kann, zu demselben Zwecke unter anderm Gesichtspunkte ungeheuer, riesig, kolossal dar; also daß die Leute immer ungeheuer vergnügt und riesig aufgelegt und kolossal erfreut sind.


Zweifelsfall

Semantik: Steigerung

Beispiel
Bezugsinstanz Redewendung/Sprichwort, Schriftsprache, Familie, alt, gegenwärtig, Literatursprache, Jensen - Wilhelm, Adel, gesprochene Sprache, Zeitungssprache, Volk
Bewertung

den allein richtigen Maßstab verrückt, die sind noch weit zurück, welche sagen, ebenso, Frequenz/immer öfter, Frequenz/immer seltener, Frequenz/leider schon natürlich, hat es aber mehr Sinn, jenseis deren die Abstumpfung des S, kürzester Ausdruck, muß heute genannt werden, oft nichts als ein modischer Ersatz, rechtfertigt sich, rechtfertigt sich sprachlich, starke Auftragen, statt des gewöhnlichen, ungeheurlichsten Übertreibungen, Unsitte des starken Auftragens, verdächtig klingt

Intertextueller Bezug