Ein Faß alten Weines (reines Herzens)
Buch | Matthias (1929): Sprachleben und Sprachschäden. Ein Führer durch die Schwankungen und Schwierigkeiten des deutschen Sprachgebrauchs. |
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Seitenzahlen | 63 - 64 |
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Unsicherheit |
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In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle
Behandelter Zweifelfall: | |
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Genannte Bezugsinstanzen: | Goethe - Johann Wolfgang, Schiller - Friedrich, Klopstock - Friedrich Gottlieb, Literatursprache, Zeitungssprache, Kohlenegg - Viktor von, Neuhochdeutsch |
Text |
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Eine erste berechtigte Abweichung, mehr freilich von dem § 75 aufgestellten Muster als von den § 77 gegebenen Regeln, entspringt einer ziemlich jungen Bequemlichkeit der deutschen Zunge. Erst in der Zeit unserer neuhochdeutschen Klassiker nach Klopstock bis zu Schiller nämlich entstand die jetzt längst allgemein geteilte Abneigung gegen die starke Endung -es des Genetivus Sing. der Adjektive, sobald dasselbe mit einem -(e)s im substantivischen Genetiv zusammentrifft. Nur in einigen festgeprägten Formeln hat es sich denn halten können, wie in keineswegs, keinesfalls, einesteils, reines Herzens-, gutes Mutes sein; doch müssen schon andere nicht minder alte wie heutiges $Seite64$ Tages, gradeswegs, stehendes Fußes auch die andere Form heutigen Tages, gradenwegs, stehenden Fußes neben sich dulden, und im übrigen hat die schwache Endung ganz obgesiegt: ein Faß alten Weines, ein Wort männlichen Geschlechtes, eine Ladung duftenden Heues. Doch wenn auch selbst jene letzten Formeln noch der Ausgleichung zum Opfer fallen sollten, wird infolge des fein und geschmackvoll regelnden Sprachgefühls der es-Form wohl wenigstens ein Altenteil bleiben in den seltenen Zusammenfügungen mit artikellosen, schwachgebeugten männlichen Haupt-und sächlichen Eigenschaftswörtern von der Art: Großes Ahnen größrer Sohn, beim Vergessen empfangenes Guten (Goethe). Den umgekehrten Fall, die Notwendigkeit, das sonst durchaus starkgebeugte all schwach zu beugen, stellt die Fügung v. Kohleneggs (VK Oktob.) dar: ein ernsteres Erfassen dieses allen, was Ehe ist; denn dieses alles wäre nicht als Genetiv kenntlich. Die allgemeine Unsicherheit in der Beugung auch der mehrgeschlechtigen Fürwörter verrät deutlichst die Fügung einer Zeitung (27): für die Toten jeden Armeekorps und jedes Geschwaders. Immer häufiger werden eben selbst diese pronominalen Formwörter von der schwachen Beugung angegriffen. Man liest jeden Mittels, die Ausmerzung jeden (statt jedes) selbständigen metaphysischen Geistesbegriffes, trotz allen Ungemachs, allen gelehrten Kleinkrams (Lit. W.-Sch. 26); und wenn auch die Formeln jeden- und allenfalls dazu verleiten mögen, so ist das sicher besonders ungerechtfertigt, wenn, wie im zweiten Beispiele, noch Adjektive zwischen Für- und Hauptwort stehn, oder wenn damit jedes Zeichen der Abhängigkeit entfällt wie in solchen Fällen der Art: die Dürftigkeit jeden Sozialismus; das ideelle Ziel jeden Absolutismus ist der Führer gegen die ungegliederte Masse (Zeitwende, 28). |
Zweifelsfall | |
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Beispiel |
keineswegs, keinesfalls, einesteils, Mutes, heutiges, gradeswegs, stehendes, heutigen, gradenwegs, stehenden, alten, männlichen, duftenden, Großes, all, ersteres, alles, jeden, jedes, allen, jedenfalls, allenfalls, empfangenes, Heues, Guten, Erfassen, dieses, größrer, Sohn, reines, Herzensgutes |
Bezugsinstanz | Goethe - Johann Wolfgang, Literatursprache, Klopstock - Friedrich Gottlieb, Kohlenegg - Viktor von, neuhochdeutsch, Schiller - Friedrich, Zeitungssprache |
Bewertung |
allgemein geteilte Abneigung, allgemeine Unsicherheit, besonders ungerechtfertigt, feines und geschmackvolles Sprachgefühl, Frequenz/häufiger, Frequenz/selten, junge Bequemlichkeit der deutschen Zunge, unkenntlich |
Intertextueller Bezug |