Seinen Abtritt nehmen, zur Verlesung kommen u. ä.

Aus Zweidat
Wechseln zu: Navigation, Suche
Buch Matthias (1929): Sprachleben und Sprachschäden. Ein Führer durch die Schwankungen und Schwierigkeiten des deutschen Sprachgebrauchs.
Seitenzahlen 251 - 252

Nur für eingeloggte User:

Unsicherheit

In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle

Behandelter Zweifelfall:

Funktionsverbgefüge und ihr Gebrauch

Genannte Bezugsinstanzen: Behördensprache, Zeitungssprache
Text

Als diese Satzteile erscheinen, wenn es Handlungen darzustellen gilt, am einfachsten ein Haupt- oder dafür ein Fürwort und ein Zeitwort: Der Wind pfeift. Ich singe. Unter dem besagten Mangel alles Gefühls für die sinnliche Kraft des einfachen Zeitwortes haben sich nun aber zahlreiche Zeitwörter gefallen lassen müssen, in gespreizter Weise durch ein anderes Zeit- und ein entsprechendes Hauptwort ersetzt zu werden, die äußerlich als Prädikat und Akkusativobjekt erscheinen. Aber diese Ersatzmittel dürfen trotz ihrer maskenhaften Verwendung unbarmherzig wieder ausgemerzt werden, da für die meisten ihre ungesunde Aufzucht in der überheizten Luft der Kanzleien noch nachgewiesen werden kann. Schon geläufig sind uns solche wie eine Wendung -, ein Bad -, seinen Weg -, Rückweg -, Rückzug -, Zuflucht -, ein Ende -, seinen Anfang nehmen; und in Verbindung mit einem Relativsatz können sie bequem, ja nötig werden: Die Wendung, die die Sache nahm, war nicht vorauszusehen gewesen. Aber ohne solche Verflechtung zwischen zwei Sätzen sind schon diese Ausdrücke nicht viel besser als die folgenden, an denen hoffentlich noch mancher „Anstoß nehmen" wird: den Abtritt nehmen, den Austritt aus dem Gerichtssaale nehmen, Aufsicht über etwas nehmen, in Angriff nehmen, Bezug nehmen auf, Verzug nehmen, Abstand nehmen oder Umgang nehmen von (= absehen). Andere Zeitwörter, die gern dieselben Handlangerdienste wie nehmen versehen, sind bringen und die entsprechenden intransitiven kommen und noch schwerfälliger: gelangen, mit welch zwei letzteren immer häufiger die einfache Leideform ersetzt wird, also daß ein Stück nicht mehr aufgeführt wird, sondern zur Aufführung kommt, gelangt, ein Bericht nicht mehr verlesen, vorgetragen wird, sondern zur Verlesung, zum Vortrage kommt, gelangt, gar auch wieder gebracht wird. Ähnlich braucht man in Abrechnung -, in Abzug -, in Anrechnung-, in Ab -, Weg - und Fortfall -, in Anregung -, in Vorschlag -, zur Aufhebung und Abschaffung -, zur Darstellung -, Versteigerung kommen, $Seite 252$ gelangen oder bringen, eine Wendung immer häßlicher als die andere, während schon wieder eingelebter sind Sorge-, Bedenken und Rechnung tragen, dies freilich lediglich als Übersetzung des französischen tenir compte, wie seine Rechnung finden die von trouver son compte ist. Überhaupt wird es mit finden und erfahren kaum besser getrieben: denn da liest man z. B. statt einfacher Leideformen: sein Gehalt erfuhr eine Aufbesserung, er findet oder erfährt eine Behandlung, - Zurechtweisung, - Darstellung, - Aufnahme, - Erwähnung, - Beachtung, - Verbreitung und Verbreiterung u. a. ä. Besonders werden noch mehr Zeitwörter der Bewegung so gebraucht: zur Verfügung stellen (statt überlassen), in Zweifel-, zur Erörterung -, zur Beratung -, zur Abstimmung stellen; in Erwägung -, in Betrachtung -, in Berechnung ziehen; der Beobachtung -, Beaufsichtigung -, Begutachtung unterziehen. Zum Schlusse, da solcher Distelsträuße wohl genug gebunden sein dürften, noch einige einzelne besonders auffällige Zeitungsblüten: Man nahm die Verlosung der Mitglieder in die Deputationen (!) vor; die Verwischung der Standesunterschiede hat sich vollzogen; gar auch: die nihilistischen Führer vollziehen gewöhnlich an diesen Grenzübergängen ihren Grenzübertritt, und: die Gläubiger haben auf die hohe Barsumme mit Erfolg — Arrest ausgebracht.

Scan
Matthias(1929) 251-252.pdf


Zweifelsfall

Funktionsverbgefüge und ihr Gebrauch

Beispiel
Bezugsinstanz Behördensprache, Zeitungssprache
Bewertung

an denen hoffentlich noch mancher "Anstoß nehmen" wird, bequem, Distelsträuße, dürfen unbarmherzig wieder ausgemerzt werden, eingelebter, Frequenz/geläufig, Frequenz/massenhaften Verwendung, häßlicher, kaum besser, nicht viel besser, noch schwerfälliger, nötig, ungesunde Aufzucht in der überheizten Luft der Kanzleien

Intertextueller Bezug