Übergeführt und überführt

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Buch Wustmann (1903): Allerhand Sprachdummheiten. Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen
Seitenzahlen 55 - 57

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Unsicherheit

In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle

Behandelter Zweifelfall:

Verb: Flexion komplexer Verben

Genannte Bezugsinstanzen: Ursprünglich, Alt, Neu, Süddeutsch, Österreich, Zeitungssprache
Text

Auch das transitive führen (d. h. bringen) und das intransitive fahren (d. h. sich bewegen) noch auseinanderhalten zu wollen, wäre vergebliches Bemühen. In beiden Bedeutungen wird schon längst bloß noch fahren gebraucht: ich fahre im Wagen, und der Kutscher fährt mich. Es kann aber gar nichts schaden, wenn man sich an Fuhre, Fuhrmann, Bierführer, dem ältern Buchführer (statt Buchhändler) u. a. den ursprünglichen Unterschied gegenwärtig hält. Und dazu könnte auch überführen dienen, das jetzt in der Zeitungssprache (als Ersatz für transportieren) beliebt geworden ist, wenn mans nur nicht fortwährend falsch flektiert lesen müßte!

Täglich muß man in Zeitungen von überführten Kranken und überführten Leichen lesen, das soll heißen: von Personen, die in das oder jenes Krankenhaus oder nach ihrem Tode in die Heimat zum Begräbnis $Seite56$ gebracht worden sind. Wie kann sich nur das Sprachgefühl so verirren! Verbrecher werden überführt, wenn ihnen trotz ihres Leugnens ihr Verbrechen nachgewiesen wird; dann aber werden sie ins Zuchthaus übergeführt, wenn denn durchaus „geführt" werden muß.

Es gibt eine große Anzahl zusammengesetzter Zeitwörter, bei denen, je nach der Bedeutung, die sie haben, bald die Präposition, bald das Zeitwort betont wird, z. B. übersetzen (den Wandrer über den Fluß) und übersetzen, überfahren (über den Fluß) und überfahren (ein Kind auf der Straße), überlaufen (vom Krug oder Eimer gesagt) und überlaufen (es überläuft mich kalt, er überläuft mich mit seinen Besuchen), überlegen (über die Bank) und überlegen, übergehen (zum Feinde) und übergehen (den nächsten Abschnitt), unterhalten (den Krug am Brunnen) und unterhalten, unterschlagen (die Beine) und unterschlagen (eine Geldsumme), unterbreiten (einen Teppich) und unterbreiten (ein Bittgesuch), hinterziehen (ein Seil) und hinterziehen (die Steuern), umschreiben (noch einmal oder ins Reine schreiben) und umschreiben (einen Ausdruck durch einen andern), durchstreichen (eine Zeile) und durchstreichen (eine Gegend), durchsehen (eine Rechnung) und durchschauen (einen Betrug), umgehen und umgehen, hintergehen und hintergehen, wiederholen und wiederholen usw. Gewöhnlich haben die Bildungen mit betonter Präposition die eigentliche, sinnliche, die mit betontem Verbum eine übertragne, bisweilen auch die einen eine transitive, die andern eine intransitive Bedeutung. Die Bildungen nun, die die Präposition betonen, trennen bei der Flexion die Präposition ab, oder richtiger: sie verbinden sie nicht mit dem Verbum (ich breite unter, ich streiche durch, ich gehe hinter, daher auch hinterzugehen) und bilden das Partizip der Vergangenheit mit der Vorsilbe ge (untergebreitet, durchgestrichen, hintergegangen); die dagegen, die das Verbum betonen, lassen bei der Flexion Verbum und Präposition verbunden (ich unterbreite, ich durchstreiche, ich hintergehe, daher auch zu hintergehen und bilden das Partizip ohne die Vorsilbe ge (unter) $Seite57$ breitet, durchstrichen, hintergangen). Darnach ist es klar, daß von einem Orte zum andern etwas nur übergeführt, aber nicht überführt werden kann. Ebenso verhält sichs mit übersiedeln, wo das Sprachgefühl neuerdings auch ins Schwanken gekommen ist. Richtig ist nur: wann siedelst du über? ich bin schon übergesiedelt, aber nicht: wann übersiedelst du? ich bin schon übersiedelt, die Familie übersiedelte nach Berlin.

Die Verwirrung stammt aus Süddeutschland und namentlich aus Österreich, wo nicht nur der angegebne Unterschied vielfach verwischt wird, sondern überhaupt die Neigung besteht, das Gebiet der trennbaren Zusammensetzung immer mehr einzuschränken. Der Österreicher sagt gern: überführt, übersiedelt; er anerkennt etwas, er unterordnet sich, eine Aufgabe obliegt ihm, er redet von einem unterschobnen Kinde, von dem Text, der einem Liede unterlegt ist, er unterbringt einen jungen Mann in einem Geschäft, er überschäumt vor Entrüstung, er hat die verschiednen Weine des Landes durchkostet usw. Wir sollten uns mit allen Kräften gegen diese Verwirrung wehren, die ein Zeichen trauriger Verlotterung des Sprachgefühls ist.

Von den mit miß zusammengesetzten Zeitwörtern sind Partizipia mit oder ohne ge gebräuchlich, je nachdem man sich lieber miß oder das Verbum betont denkt, also mißlungen, mißraten, mißfallen, mißbilligt, mißdeutet, mißgönnt, mißbraucht, mißhandelt, neben gemißbraucht, gemißbilligt, gemißhandelt. Die Vorsilbe ge kann aber niemals zwischen miß und das Zeitwort treten, miß bleibt in der Flexion überall mit dem Zeitwort verwachsen. Daher ist es auch falsch, Infinitive zu bilden, wie mißzuhandeln; es muß unbedingt heißen: zu mißhandeln, zu mißbrauchen.

Für neubacken wird jetzt öfter neugebacken geschrieben: ein neugebackner Doktor, ein neugebackner Ehemann usw., aber doch immer nur von solchen, die sich die gute alte Form nicht zu schreiben getrauen. Und doch fürchten sie sich weder vor neuwaschen noch vor altbacken noch vor hausbacken.

Scan
Wustmann(1903) 055-057.pdf


Zweifelsfall

Verb: Flexion komplexer Verben

Beispiel
Bezugsinstanz alt, neu, ursprünglich, Österreich, süddeutsch, Zeitungssprache
Bewertung

Zeichen trauriger Verlotterung

Intertextueller Bezug