Aus: "Die Grenzboten"
Buch | Wustmann (1903): Allerhand Sprachdummheiten. Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen |
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Seitenzahlen | 249 - 251 |
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Unsicherheit |
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In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle
Behandelter Zweifelfall: | |
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Genannte Bezugsinstanzen: | Leipzig, Fachsprache (Druckereiwesen), Neu, Gesprochene Sprache, Schriftsprache, Literatursprache, Zeitungssprache, Schulsprache |
Behandelter Zweifelfall: | |
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Genannte Bezugsinstanzen: | Schriftsprache, Literatursprache, Zeitungssprache |
Text |
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Zu den größten irdischen Freuden des Papiermenschen gehören die sogenannten Gänsefüßchen. Der Schulmeister, der auf Verständnis rechnen kann, wenn er dem Achtjährigen zum erstenmal in die Feder diktiert: der Vater fragte — Doppelpunkt — Gänsefüßchen unten — wo bist du gewesen, Max — Fragezeichen — Gänsefüßchen oben —, hat das stolze Gefühl, daß er seinen Zögling zu einer der wichtigsten Entwicklungsstufen seiner Geistesbildung emporgeführt habe. Aber nicht bloß Schulmeister und Schulknaben, auch andre Leute, z. B. Romanschriftsteller, haben an diesen Strichelchen eine kindische Freude; es gibt Romane, in denen man vor lauter Gänsefüßchen fast nichts vom Dialog sieht. Ein Hochgenuß beim Lesen ist es, wenn Er immer mit zweien (,,—"), Sie immer mit vieren (,,,,—"") erscheint; dann flimmert es einem förmlich vor den Angen. Die Gänsefüßchen sind, wie der Apostroph (vgl. S. 7), eine jener nichtsnutzigen Spielereien, die — es steht nicht fest, ob durch den Schulmeister oder durch den Druckerei- $Seite 250$ korrektor eigens für die Papiersprache erfunden worden sind. Wenn jemand einen Roman vorliest, so kann er doch die Gänsefüßchen nicht mitlesen. Und doch versteht ihn der Zuhörer. Wozu schreibt und druckt man sie also? Einen Zweck haben sie nur da, wo man Wörter oder Redensarten ironisch gebraucht (um sie lächerlich zu machen), oder wo man mitten in seine eigne Darstellung eine Stelle aus der Darstellung eines andern einflicht.//* An den Leipziger Pferdebahnwagen war am Hintertritt folgender Satz mit Gänsefüßchen (!) angeschrieben: „Dieser Platz des Hinterperrons bleibt frei." Offenbar war der Satz ein Zitat. Aber woher? Büchmann gibt keine Auskunft.// Aber auch da sind sie überflüssig, wenn diese Stelle in fremder Sprache oder in Versen ist, sich also schon durch die Schriftgattung (Antigua, Kursiv, Petit) von dem übrigen Text genügend abhebt. Ebenso überflüssig aber und nichts als eine Spielerei sind sie bei Namen und bei Überschriften und Titeln von Büchern, Schauspielen, Opern, Gedichten usw. Wenn man sagt: der Kaiser hat eine Reise auf der Hohenzollern gemacht — so versteht das doch jedermann, und ebenso wenn man sagt; der Vers ist aus Goethes Iphigenie. Manche Lehrer behaupten zwar, die Iphigenie ohne Gänsefüßchen sei die Person des Schauspiels, die Iphigenie mit Gänsefüßchen sei das Schauspiel selbst; kann man denn aber in der lebendigen Sprache diese Unterscheidung machen? Das ärgste ist es und eine der abgeschmacktesten Erscheinungen der Papiersprache, wenn Titel und Überschriften wie Versteinerungen behandelt werden, und geschrieben wird: die Redaktion des „Wiener Fremdenblatt," und ebenso nach Präpositionen: Vorspiel zu „Die Meistersinger" — Ouvertüre zu: „Die Fledermaus" — einzelne Bilder aus „Der neue Pausias" — Bemerkungen zu Goethes „Der getreue Eckardt" — erweiterter Separatabdruck aus „Der praktische Schulmann" — diese Aufsätze haben zuerst in „Die Grenzboten" gestanden usw. Jedermann sagt: ich bin gestern abend in der Fledermaus gewesen, der Vers ist aus dem Neuen Pausias, ich habe das im Praktischen Schulmann gelesen, die $Seite 251$ Aufsätze haben in den Grenzboten gestanden. Versteht man das nicht? Wenn mans aber mit den Ohren versteht, warum denn nicht mit den Augen? Einige Verlegenheit bereiten ja die jetzt so beliebten Zeitungs- und Büchertitel, die, anstatt aus einem Hauptwort, aus einer adverbiellen Bestimmung bestehen, wie: Aus unsern vier Wänden, Vom Fels zum Meer, Zur guten Stunde, Von Stufe zu Stufe u. ähnl. Hoffentlich wird die Mode, solche Titel zu bilden, mit der Zeit wieder verschwinden; sie sind beim Sprechen eine Qual. Jedes natürliche Sprachgefühl sträubt sich doch dagegen, zu sagen: ich habe das in Vom Fels zum Meer gelesen. Aber immer dazuzusetzen: in der Zeitschrift — was schließlich das einzige Rettungsmittel ist, ist doch zu langweilig. |
Zweifelsfall | |
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Beispiel | |
Bezugsinstanz | Literatursprache, Schriftsprache, Zeitungssprache |
Bewertung |
das ärgste, eine der abgeschmacktesten Erscheinungen, eine Qual, zu langweilig |
Intertextueller Bezug |
Zweifelsfall | |
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Beispiel | |
Bezugsinstanz | Literatursprache, Fachsprache (Druckereiwesen), neu, Schriftsprache, Literatursprache, Literatursprache, Schulsprache, Literatursprache, Zeitungssprache, Schulsprache, gesprochene Sprache, Leipzig |
Bewertung |
Hochgenuß, nichtsnutzig, überflüssig, nichts als eine Spielerei |
Intertextueller Bezug | Büchmann |