Erzählung und Inhaltsangabe

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Buch Wustmann (1903): Allerhand Sprachdummheiten. Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen
Seitenzahlen 108 - 109

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Unsicherheit

In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle

Behandelter Zweifelfall:

Verb: konkurrierende Tempora

Genannte Bezugsinstanzen: Gesprochene Sprache, Schriftsprache, Literatursprache, Zeitungssprache, Schulsprache
Text

Wer eine Geschichte erzählt, bedient sich des Imperfekts; alle Ereignisse, die vor der Geschichte liegen, die erzählt wird, also zu der sogenannten Vorfabel gehören, müssen im Plusquamperfekt mitgeteilt werden. Imperfekt und Plusquamperfekt sind die beiden einzigen Tempora, die in den erzählenden Abschnitten einer Novelle oder eines Romans vorkommen können. Die Vorfabel braucht nicht am Anfang der Novelle zu stehen, sie kann mitten in der Novelle nachgetragen, ja selbst auf mehrere Stellen der Novelle verteilt werden. Immer aber muß das sofort durch den Tempuswechsel kenntlich gemacht werden. Zieht sich nun die Vorfabel in die Länge, so wird der Leser bald des Plusquamperfekts überdrüssig, und der Erzähler muß dann auch die Vorfabel in das Imperfekt zu lenken suchen. Das geschickt und fein und an der richtigen Stelle zu machen ist eine Aufgabe, an der viele Erzähler scheitern.

Noch schwieriger freilich scheint eine andre Aufgabe zu sein: wenn Rezensenten den Inhalt eines Romans, eines erzählenden Gedichts, eines Dramas angeben, so zeigen sie nicht selten eine klägliche Hilflosigkeit in der Anwendung der Tempora. Man kann Inhaltsangaben lesen, deren Darstellung zwischen Präsens und Imperfekt, Perfekt und Plusquamperfekt nur immer so hin- und hertaumelt. Und doch ist auch diese Aufgabe eigentlich nicht schwieriger als die andre. Ein Buch, das besprochen wird, liegt vor. Da hat kein andres Tempus etwas zu suchen, als das Präsens und das Perfektum, das Präsens für die Geschichte selbst, das Perfektum für die Vorgeschichte. Wer den Inhalt wissen will, fragt nicht: wie war denn die Geschichte? sondern: wie ist denn die Geschichte? Und anders kann auch der nicht antworten, der den Inhalt des Buches angibt; er kann nur sagen: die Geschichte ist so, und nun fängt er im Präsens an: Auf einem Gut in der Nähe von Danzig lebt ein alter Rittmeister; er hat früher eine zahlreiche Familie gehabt, steht aber nun allein da usw. Auch wer in der Unterhaltung den Inhalt eines Schauspiels angibt, das $Seite109$ er am Abend zuvor im Theater gesehen hat, bedient sich keines andern Tempus und kann sich keines andern bedienen. Nur manche Zeitungschreiber scheinen das nicht begreifen zu können.//* Den Inhalt eines Dramas kurz anzugeben, gehört zu den beliebtesten Aufgaben für deutsche Aufsätze in den obern Gymnasialklassen. Es kann auch viel dabei gelernt werden. Wie viel ärgerliche Korrektur aber könnte sich der Lehrer ersparen, wenn er bei der Vorbesprechung immer auch diese Tempusfrage mit den Jungen gründlich erörterte!//

Nicht ganz leicht dagegen ist es wieder, in der Erzählung das sogenannte Praesens historicum, das Präsens der lebhaften, anschaulichen Schilderung richtig anzuwenden. Genau an der richtigen Stelle in dieses Präsens einzufallen, genau an der richtigen Stelle sich wieder ins Imperfekt zurückzuziehen, das glückt nur wenigen. Die meisten machen es recht täppisch.

Scan
Wustmann(1903) 108-109.pdf


Zweifelsfall

Verb: konkurrierende Tempora

Beispiel
Bezugsinstanz Schriftsprache, Literatursprache, Zeitungssprache, gesprochene Sprache, Schulsprache
Bewertung

überdrüssig, klägliche Hilflosigkeit, recht täppisch

Intertextueller Bezug