Hingebung und Eingabe. Aufregung und Aufgeregtheit
Buch | Wustmann (1903): Allerhand Sprachdummheiten. Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen |
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Seitenzahlen | 334 - 337 |
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Unsicherheit |
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In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle
Behandelter Zweifelfall: | |
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Genannte Bezugsinstanzen: | 16. Jahrhundert, Leipzig, Gegenwärtig, Alt, Sprachverlauf, Gesprochene Sprache, Zeitungssprache, Schulsprache, Fachsprache (Rechtswissenschaft) |
Text |
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Von manchen wird ein lebhafter Kampf gegen die Wörter auf ung geführt. Sie klängen häßlich, heißt es, ja sie seien geradezu eine Verunstaltung unsrer Sprache. Im Unterricht wird gelehrt, man solle sie möglichst vermeiden. Irgend jemand hat sogar die witzige Bemerkung gemacht, unsre Sprache mit ihren vielen ung-ung-ung klinge wie lauter Unkenrufe. Das ist zunächst eine Übertreibung. Die Endung ung ist tonlos und fällt nicht so ins Gehör, daß sie, in kurzen Zwischenräumen wiederholt, stören könnte. Wenn in unsrer heutigen Sprache das Ohr durch nichts schlimmeres verletzt würde als durch die Endung ung, so wäre es gut. Ein Satz wie folgender: über die Voraussetzungen zu einer Schließung des Reichstags enthält die Verfassung keine ausdrückliche Bestimmung — hat gar nichts anstößiges. In lebendiger Rede hört man es kaum, daß hier kurz hintereinander vier Wörter auf ung stehen. Hebt man freilich die Endung auffällig hervor, so kann es wohl lächerlich klingen: aber auf diese Weise kann man auch hundert andre Spracherscheinungen lächerlich machen. Nicht die Wörter auf ung muß man bekämpfen, sondern eine immer mehr um sich greifende garstige Gewohnheit, die dazu verleitet, eine Menge wirklich häßlicher Wörter auf ung zu bilden, darunter Ungetüme, wie: Inbetriebsetzung, Außerachtlassung, Inwegfallbringung, Zurdispositionstellung, Außerdienststellung u. a., die Gewohnheit nämlich, eine Handlung oder einen Vorgang nicht durch ein Zeitwort auszudrücken, sondern durch ein Substantiv in Verbindung mit irgend einem farblosen Zeitwort des Geschehens (mit Vorliebe stattfinden oder erfolgen). Da ist es aber nicht die Endung ung, die stört, sondern das schleppende Wortungetüm, das damit gebildet ist, und der ganze unlebendige Gedankenausdruck (vgl. S. 321). Wir haben vielmehr allen Anlaß, die Endung ung zu schützen, ja zu verteidigen gegen törichte Neubildungen, die sich ihr an die Seite drängen wollen. $Seite 335$ Die Wörter auf ung bezeichnen zunächst eine Handlung, einen Vorgang; Bildung, Erziehung, Aufklärung, Einrichtung bedeuten zunächst die Handlung, die Tätigkeit des Bildens, des Erziehens, des Aufklärens, des Einrichtens. Aus dieser Bedeutung entwickelt sich aber eine weitere, nämlich die des Ergebnisses, das die Handlung hat, des Zustandes, der durch sie herbeigeführt worden ist; Bildung, Erziehung, Aufklärung bedeuten auch den Zustand des Gebildetseins, des Erzogenseins, des Aufgeklärtseins, Einrichtung auch das Eingerichtete selbst, Teuerung sogar ausschließlich den Zustand, wo das Brot teuer ist. Vielfach hat nun die Sprache, um den Unterschied zwischen der Handlung und ihrem Ergebnis zu bezeichnen, neben dem Wort auf ung noch ein kürzeres, meist mit Ablaut, unmittelbar aus dem Stamme geschaffen, also eine starke Bildung neben der schwachen. So haben wir Anlage neben Anlegung, Vorlage neben Vorlegung und können geradezu reden von der Anlegung von Gas- und Wasseranlagen, der Vorlegung von Zeichenvorlagen. Da besteht aber nun schon seit alter Zeit die Neigung, die Bildung auf ung ganz zu beseitigen und ihre Aufgabe der kürzern Form mit zu übertragen. So sind die Wörter Kaufung und Verkaufung ganz verschwunden; heute bedeutet Kauf und Verkauf auch die Handlung des Kaufens und Verkaufens. Und diese Neigung ist gegenwärtig besonders stark verbreitet: obwohl die Sprache eine Unterscheidung an die Hand gibt, es ermöglicht, einen Unterschied zu machen (wieder ein Beispiel: Unterscheidung und Unterschied!), verschmäht man ihn und redet von Hingabe, Freigabe (die Freigabe von Heyses Maria von Magdala), Erwerb (in jedem Bande stand auf dem Titelblatte das Datum des Erwerbs!), Gewinn, Bezug, Vollzug, Entscheid, Entsatz, Ersatz, Vergleich, Ausgleich, Aufgebot, Freispruch (des Angeklagten), Zusammenschluß, wo Hingebung, Freigebung (der Sonntagsarbeit), Erwerbung (eines Grundstücks oder der Staatsangehörigkeit), Gewinnung (Schlesiens), Beziehung, Vollziehung, Entscheidung, Ent- $Seite 336$ setzung (Emin Paschas), Ersetzung, Vergleichung, Aufbietung (aller Kräfte), Zusammenschließung das Richtige wäre, weil eine Handlung gemeint ist. Vor dem letzten Einzug des Königs in Leipzig fiel es einem Zeitungschreiber ein, davon zu reden, wieviel fleißige Hände mit dem Ausschmuck der Straßen beschäftigt wären. In den nächsten Tagen plapperten das dumme Wort alle Leipziger Zeitungen nach!//* Im Friseurladen redet man jetzt von amerikanischer Kopfwäsche. Wenn jemand im Neuen Testament von Jesu Fußwäsche reden wollte!// Andrerseits: da, wo die Sprache wirklich beides, Handlung und Zustand, mit demselben Worte, und zwar auf ung, ausgedrückt hat, schafft man künstlich einen Unterschied durch häßliche Neubildungen auf heit (sie schießen wie Pilze aus der Erde!) und läßt die Menschen aus Geneigtheit oder Abgeneigtheit, in der Zerstreutheit, in der Verzücktheit, in der Verstimmtheit, in der Aufgeregtheit, in der ersten Überraschtheit, mit Gefaßtheit, unter Merkmalen von Geistesgestörtheit oder gar geistiger Gestörtheit tun, was sie früher aus Neigung oder Abneigung, in der Zerstreuung, in der Verzückung, in der Verstimmung, in der Aufregung, in der ersten Überraschung, mit Fassung, in einem Anfalle von Geistesstörung taten. Ja man redet sogar von künstlerischer Abgeklärtheit, von religiöser Aufgeklärtheit, von der Isoliertheit eines Gebäudes, von der Vertiertheit des Proletariats und sieht mit Gespanntheit den kommenden Ereignissen entgegen. Hier überall gilt es, die Bildung auf ung zu schützen und das einschlummernde Sprachgefühl wieder zu wecken. Der Strafvollung, von dem die Juristen immer reden, ist geradezu ein Greuel; er müßte doch aus unsrer Sprache wieder hinauszubringen sein: ebenso die innige Hingabe.//** Im sechzehnten Jahrhundert sprach man noch von Unterrichtung. Als dafür Unterricht aufkam (anfangs gewiß auf der letzten Silbe betont), muß sprachfühlenden Leuten ähnlich zumute gewesen sein, wie uns heute beim Vollzug und beim Entscheid.// Wird jemand Anziehung und Anzug $Seite37$ verwechseln, oder Eingebung und Eingabe, und sagen: er tat das aus göttlicher Eingabe? Das fürchterlichste ist wohl der Bezug. Früher kannte man Bezüge nur an Bettkissen, Stuhlpolstern und Regenschirmen. Jetzt steht Bezug überall für Beziehung, und da nun die, die das Wort so gebrauchen, die Bedeutung der Handlung dabei doch nicht recht fühlen, was haben sie gemacht? Sie haben das herrliche Wort Bezugnahme erfunden. Das kann man aber doch bequemer haben: was mühselig durch das zusammengesetzte Wort Bezugnahme ausgedrückt werden soll, das liegt ja eben in dem einfachen Worte Beziehung. |
Zweifelsfall | |
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Beispiel | |
Bezugsinstanz | Schulsprache, gegenwärtig, Sprachverlauf, alt, gesprochene Sprache, Zeitungssprache, Leipzig, Fachsprache (Rechtswissenschaft), 16. Jahrhundert |
Bewertung |
Übertreibung, gar nichts anstößiges, lächerlich, farblos, schleppende Wortungetüm, unlebendige Gedankenausdruck, das dumme Wort, nachplappern, schießen wie Pilze aus der Erde, das fürchterlichste, mühselig |
Intertextueller Bezug |