Man spricht so viel von fließendem Stil, beneidet wohl auch den und jenen um seinen fließenden Stil. Ist das Sache der Begabung, oder ist es etwas Erlern- bares?
Zum Teil beruht das, was man fließenden Stil nennt, unzweifelhaft auf der Klarheit des Denkens und der Folgerichtigkeit der Gedankenentwicklung — nur wer sich selbst über eine Sache völlig klar geworden ist, kann sie andern klar machen —, zum Teil auch auf dem Rhythmus — es wird viel zu viel stumm geschrieben, während man doch nichts drucken lassen sollte, was man $Seite 318$ sich nicht selber laut vorgelesen hat!//*) Bedingungssätze statt mit wenn mit dem Verbum anzufangen ist an sich nicht übel, nur darf das Verbum dann nicht unmittelbar hinter dem des Hauptsatzes stehen, z. B. ein gewissenhafter Mann darf, will er seinen Ruf nicht gefährden, oder: es ist manches verschwiegen, was gesagt werden müßte, sollte die Veröffentlichung überhaupt Be- rechtigung haben. Wer laut schreint, wird so etwas nie schreiben. Die beiden Verba platzen aufeinander wie ein paar Lokomotiven. Schreibt man wenn, so mündet der Nebensatz leicht und natürlich ein wie ein Nebenflüßchen, das den Fluß des Hauptsatzes beschleunigt. Hüten muß man sich aber vor der Häufung einsilbiger Wörter. Doch kann auch eine lange Reihe einsilbiger Wörter ganz fließend klingen, wenn sie durch den Accent zu Gruppen zusammengefaßt werden, z. B. ein Um-stand, wie es ihn bis jetzt noch fast gar nicht gegeben hat.// —, zum größten Teil aber beruht es auf gewissen technischen Handgriffen beim Satzbau — Handwerksvortelchen möchte ich sagen —, die man eben kennen muß, um sie anwenden zu können. Unbewußt und unwillkürlich wendet sie niemand an. Es gibt allerdings auch einen Naturburschenstil, der den Leser durch eine gewisse Gewandtheit ein paar Seiten lang täuschen kann; dann kommt aber plötzlich ein Satz, der deutlich verrät, daß der Verfasser nur zufällig, nicht mit Bewußtsein fließend geschrieben hat.
Den angenehmen Eindruck, daß jemand fließend schreibe, hat man dann, wenn beim Lesen das Ver- ständnis, die geistige Auffassung des Geschriebnen immer gleichen Schritt hält mit der sinnlichen Auffassung, die durch das Auge vor sich geht. Ist das nicht der Fall, ist man öfter genötigt, stehen zu bleiben, mit den Augen wieder zurückzukehren, einen ganzen Satz, einen halben Satz oder auch nur ein paar Worte noch einmal zu lesen, weil man sieht, daß man das Gelesene falsch verstanden hat, so spricht man von holprigem oder höckrigem Stil. Solch ärgerliches Mißverständnis kann aber die ver- schiedensten Ursachen haben. Wer diese Ursachen zu ver- meiden weiß, wer den Leser jederzeit zwingt, gleich beim ersten Lesen richtig zu verstehen, der schreibt einen fließenden Stil. Das ist das ganze Geheimnis. Im folgenden sollen einige Haupthindernisse eines fließenden Stils zusammengestellt werden.
Vor allem gehört zu ihnen die leider in unsrer Sprache weitverbreitete, ungemein beliebte und doch das Ver- $Seite 319$ ständnis, namentlich dem Ausländer, aber auch dem Deutschen selbst überaus erschwerende Unsitte, (so, wie es hier soeben geschehen ist!) zwischen den Artikel und das zugehörige Hauptwort langatmige Attribute einzu- schieben, statt diese Attribute in Nebensätzen nachzubringen. Dergleichen Verbindungen sind geradezu eine Qual für den Leser. Man sieht einen Artikel: die. Dann folgt eine ganze Reihe von Bestimmungen, von denen man zunächst gar nicht weiß, worauf sie sich beziehen: ver- breitete, beliebte, erschwerende. Endlich kommt das erlösende Hauptwort: Unsitte! Während also das Auge weiter gleitet, weiter irrt, wird unmittelbar hinter dem Artikel der Strom der geistigen Auffassung unter- brochen, es entsteht eine Lücke, und der Strom schließt sich erst wieder, wenn endlich das Hauptwort kommt. Dann ist es aber zu spät, man hat die Übersicht über das Eingeschobne längst verloren, muß wieder umkehren und das Ganze noch einmal lesen. Eine solche Unter- brechung tritt zwar bei jedem eingeschobnen Attribut ein, aber bei kurzen Attributen doch in so kleinem Maße, daß man sie nicht fühlt. Je länger das Attribut ist, desto empfindlicher und störender wird die Lücke. Nur der gute Stilist hat ein richtiges und feines Gefühl dafür, was er dem Leser in dieser Beziehung zumuten darf. Unsre Kanzlisten und Zeitungschreiber haben meist keine Ahnung davon; sie schreiben seelenvergnügt, indem sie immer ein Attribut ins andre schachteln: das Gericht wolle erkennen, der Geklagte (!) sei schuldig, mir für die von mir an die in dem von ihm zur Bearbeitung über- nommenen Steinbruch beschäftigten Arbeiter vorge- schossenen Arbeitslöhne Ersatz zu leisten — oder: von einer durch einen in einer Umwälzung in den wich- tigsten Einrichtungen aller Kulturstaaten bestehenden Vor- teil ausgezeichneten Erfindung sind einige Gewinn- anteile zu verkaufen — oder: mit einem von dem auf der nach dem Wasser zu gelegnen Veranda aufge- stellten Musikkorps des ersten Gardedragonerregiments geblasenen Choral wurde die Feierlichkeit eröffnet.
Ein zweites Haupthindernis eines fließenden Stils ist schon früher besprochen worden und soll hier nur $Seite 320$ einmal kurz erwähnt werden: es ist der unvorsichtige Ge- brauch der Fürwörter (vgl. S. 218). Wie ärgerlich wird man beim Lesen aufgehalten durch ein er, sie, ihm, ihn, sein, ihr, diesem, wenn man nicht sofort sieht, auf wen oder was es sich bezieht! Wo irgend ein Miß- verständnis möglich ist, sollte immer statt des Fürworts wieder das Hauptwort gesetzt werden.
Eine dritte Unsitte, die das Verständnis alles Deutsch-geschriebnen in neuerer Zeit in der peinlichsten Weise erschwert, besteht darin, daß man das eigentliche und wirkliche Hauptwort des Satzes, nämlich das Verbum, immer in ein Substantiv verwandelt, entweder in ein wirkliches Substantiv oder in einen substantivierten In- finitiv. Da wird z. B. geschrieben: der Zuhilfenahme eines besondern Rechts der Persönlichkeit bedarf es nicht (statt: ein besondres Recht zu Hilfe zu nehmen ist nicht nötig) — beim Unterbleiben einer baldigen Inan-griffnahme des Projekts (statt: wenn das Projekt nicht bald in Angriff genommen wird) — nach Umarbei-tung eines Teils der Lieder zum Zwecke der Herstel- lung ihrer Sangbarkeit für Männerchöre an höhern Schulen (statt: nachdem ein Teil der Lieder umgearbeitet worden ist, um sie sangbar zu machen) — trotz der seitens des Vorsitzenden erfolgten Ablehnung des Antrags des Angeklagten auf Vorladung des Kellners (statt: ob- gleich der Vorsitzende den Antrag des Angeklagten ab- lehnte, den Kellner vorzuladen) — das plötzliche Hin- überlaufen eines normal entwickelten sieben bis acht Jahre alten Kindes über den Straßendamm vor einem schnell herankommenden sichtbaren und durch sein Rollen hörbaren Straßenbahnwagen, ohne auf die Warnung andrer Personen zu hören, kann dem Kinde zum Ver-schulden angerechnet werden (statt: wenn ein Kind plötz- lich hinüberläuft, ohne usw.) — das Mißlingen des Versuchs muß natürlich sein Aufgeben zur Folge haben (statt: wenn der Versuch mißlingt, muß er natür- lich aufgegeben werden) — für die Mehrzahl der Reisenden hat die Erweiterung des Gesichtskreises aufgehört der Reisezweck zu sein (statt: die meisten reisen nicht mehr, um ihren Gesichtskreis zu erweitern) — $Seite 321$ die Voraussetzung für die Patentierung eines Ad- vokaten bildet eine mehrjährige Hilfsarbeiterschaft in einem Bureau (statt: wer als Advokat patentiert sein will, muß mehrere Jahre Hilfsarbeiter gewesen sein) — es gibt eine Grenze, bei deren Überschreitung die Ver- mehrung der Bevölkerung nicht zur Erhöhung, sondern zur Verminderung des Wohlstandes führt (statt: das Wachstum der Bevölkerung hat eine Grenze; wird diese überschritten, so wird der Volkswohlstand nicht vermehrt, sondern vermindert). Es gibt Schriftsteller, bei denen diese Art, sich auszudrücken, vollständig zur Manier geworden ist: sie haben sich so hinein verrannt, daß sie gar nicht wieder davon loskommen. Jeder Gedanke, der vor ihrer Seele auftaucht, nimmt sofort die Gestalt eines Substantivs an, jeder Hauptsatz, jeder Nebensatz gerinnt ihnen zu einem Substantiv. Erweitern — das können sie gar nicht mehr denken, sie denken nur noch Erweiterung.//*) Sehr komisch ist es, wenn unwillkürlich einmal die gesunde Natur durch die Manier durchbricht, wo es zu spät ist. Dann ent-stehen Sätze wie: es ist zu bedauern, was für ein Aufwand von Zeit
und Mühe darauf verwendet worden ist — die Erfahrungen, die
man in Dresden mit dieser Einrichtung gemacht hat, dürften den Be-
weis für die Notwendigkeit derselben genügend bewiesen haben —
eine telegraphische Nachricht, wonach die Möglichkeit einer persön-
lichen Begegnung für möglich erachtet wurde.// Statt um zu, weil, so daß, wenn schwebt ihnen sofort Zweck, Grund, Folge, Voraussetzung vor. Wenn ein gewissenhafter Re- dakteur mit solchen Mitarbeitern zu tun hat, so bleibt ihm gar nichts weiter übrig, als Satz für Satz die harten Substantivschalen entzwei zu schlagen und überall den weichen Verbalkern herauszuholen, mit andern Worten: Satz für Satz umzuschreiben, aus der Sub- stantivsprache in die Verbalsprache zu übersetzen. Verba erhalten den Satzbau geschmeidig und flüssig, sie lassen sich in der mannigfaltigsten Weise bekleiden, ohne daß die Sätze beschwert werden und dadurch schlep- pend werden. Sowie man aber den Verbalbegriff substantiviert, entstehen nicht nur so häßliche Bildungen, wie Zuhilfenahme, Inangriffnahme, Inan- spruchnahme, Beiseiteschiebung, Zugänglich $Seite 322$ machung, Zurannahmebringung, Inanklage- standversetzung, sondern diese zähen Verbalextrakte müssen nun auch erst wieder durch irgend einen wäß- rigen, gehaltlosen Zusatz wie stattfinden, erfolgen, bewirken in den flüssigen Zustand zurückversetzt werden, der für den Satzbau notwendig ist. Außerdem verbaut man sich durch solche Substantivierung selbst den Weg, verfitzt sich den Satz, und adverbielle Bestimmungen geraten in die Gefahr, falsch bezogen zu werden, wie in folgenden Sätzen: Seine Majestät gab das Zeichen zum Beginn der Feier durch Absingung eines Chorals (statt: durch Absingung zu beginnen) — man verzichtete auf die Beantwortung einer Thron- rede durch eine Adresse (statt: durch eine Adresse zu
beantworten) — K. wurde der Körperverletzung mittels eines schweren Werkzeuges angeklagt (statt: mittels eines schweren Werkzeuges verletzt zu haben) — ein Expedient wurde wegen Unterschlagung von 750 Mark zum Nachteil seines Prinzipals verhaftet (statt: weil er zum Nachteil seines Prinzipals oder einfach: seinem Prinzipal unterschlagen hatte) — die Fischerinnung hat das Befahren der Flüsse inner- halb der Stadtflur mit Booten und Kähnen ver- boten (statt: mit Booten und Kähnen zu befahren). Eine adverbielle Bestimmnng gehört, wie ihr Name sagt, zunächst zum Verbum; wird dieses Verbum substantiviert, so flüchtet sie eben zu einem andern Verbum, und — der Unsinn ist fertig. Namentlich in unsrer Gesetz- und Verordnungssprache spielt dieser Fehler eine große Rolle; Tausende von Bekanntmachungen, Verordnungen, War- nungen und Verboten, aber auch die einzelnen Punkte von Tagesordnungen und Protokollen fangen gewöhnlich gleich mit einem Verbalsubstantiv oder einem substanti- vierten Infinitiv an und quälen dann sich und die Leser mit allem, was darauf folgt.
Ein vierter, sehr häufiger Fehler, aus dem das gerade Gegenteil eines fließenden Stils entspringt, be- steht darin, daß ein casus obliquus eines Hauptworts so im Satze gestellt wird, daß er beim ersten Lesen ent-weder nicht erkannt wird oder falsch bezogen werden $Seite 323$ muß. Sehr gewöhnlich ist es z. B., daß ein Satz mit einem Akkusativ angefangen wird, der, weil er ein Fe-mininum, ein Neutrum oder ein Plural ist oder keinen Artikel hat, nicht eher als Akkusativ erkannt wird, als bis — oft ziemlich spät — das Subjekt folgt//*) Schon als Knaben haben mich die Verse nachdenklich gemacht: Ritter, treue Schwesterliebe widmet euch dies Herz. Dann heißt es weiter: fordert keine andre Liebe — wo mir wieder fordert wie ein zweites Prädikat zu Schwesterliebe erschien.//; bis dahin hält ihn jeder Leser für den Nominativ, also für das Subjekt des Satzes, z. B.: die Pflege und die War- tung des jüngsten Kindes besorgt die Hausfrau selbst — die Frage, ob es richtig war, auch die schon seit län- gerer Zeit ansässigen Einwandrer auszuweisen, unter- suche ich hier nicht — seine Erziehung hatte bisher nach der allgemeinen Gewohnheit in hochadligen Fa- milien ein Priester geleitet — die beste Schilderung Corneliens, zugleich ein herrliches Denkmal dankbarer Liebe, haben wir in Wahrheit und Dichtung — die zu Anfang des Jahrgangs ausgesprochne Bitte, den Herausgeber der Handschriften des verehrten Lehrers durch Darleihung von Nachschriften zu unterstützen, wiederhole ich noch einmal dringend — die Einreihung der nicht teuern Bände in jede Familienbibliothek befürworte ich aufs wärmste — das Orchester führte schneidig und mit Umsicht Herr Kapellmeister Porst — das große Pferd, dessen mythologische Bedeutung schon durch die Statue auf der Säule nahe gelegt wird, hat Thausing als Herkules gedeutet — anerkannte Namen von bestem Klange wie aufstrebende neue Talente hat unsre
Mitarbeiterliste aufzuweisen — des Kaisers Sieg bei Mühlberg, nach dem die Tage des Evangeliums ge- zählt schienen, feierte Agricola durch einen Dankgottes- dienst — die Herren, die sich an unserm Fortbildungs- kursus beteiligen wollen, ersuchen wir usw. Aber auch andre Fälle solcher falscher Beziehungen kommen vor, wie folgende Beispiele zeigen (das Mißverständnis, in das jeder Leser zunächst verfällt, soll durch den Druck hervorgehoben werden): diese volle Unabhängigkeit fordernde Stelle — in einem Ende November 1862 $Seite 324$ an das Ministerium gerichteten Schreiben — die Sozial- demokratie besteht noch in dem Staate gefahrdrohender Weise — es handelt sich um eine sehr weite Kreise interessierende Angelegenheit — um sie zu allen An- forderungen entsprechenden Soldaten zu machen — die Absicht, den Platz mit dem Festzweck entsprechenden Dauerbauten zu versehen — sie hat ihm zu seinem Aufsehen erregenden Mädchenbilde gesessen — mit Rücksicht auf die Befähigten zu erteilende Ausbil- dung — das nationale Gefühl ist durch Jahrhunderte lange Trennung geschwächt — die beiden Täler werden von Steinforellen enthaltenden Bächen durchflossen — diese Konglomerate von kleinlichen, detaillierten Spezialforderungen anzupassenden Verwaltungsräumen
usw. In allen diesen Sätzen verbindet man im ersten Augenblicke falsch; im nächsten Augenblicke sieht man natürlich die richtige Verbindung, aber seinen Stoß hat man weg.
Viele Druckseiten könnten hier mit Beispielen der ver-schiedensten Art gefüllt werden, die alle darauf hinaus- laufen, daß der Leser beim ersten Lesen falsch versteht, an einer gewissen Stelle merkt, daß er falsch verstanden hat, und deshalb umkehren und das Gelesene gleichsam umdenken muß. Sehr häufig ist der Fall, daß dem Schreibenden bei einem Fürwort, einem Partizip, einem Adverb ein erst später folgendes Hauptwort oder Zeit- wort vorschwebt, während es der Leser, der das nicht wissen kann, auf ein schon dagewesenes bezieht. Welche Störung dann! Da wird z. B. geschrieben: in Berlin gelang es Bandel nicht, festen Fuß zu fassen; mit der brutalen Deutlichkeit, die ihm eigen war, erklärte ihm Schadow usw. (hier wird jeder Leser ihm zunächst auf Bandel beziehen, während es auf Schadow gehen soll) — die Gedichte wurden meine Einführungsbriefe bei den Dichtern Münchens, die ich fast alle in diesen Jahren im Hanse meines Vaters kennen lernte; als Glied des Leseausschusses, als Regisseur, als Träger der Heldenrollen und wahrlich nicht am wenigsten als einsichtsvoller und wohlwollender Berater, als ein in allen Stücken prächtiger Mann war er von den $Seite 325$ Herren gar eifrig gesucht (hier bezieht der Leser alle die schönen Prädikate des zweiten Satzes auf ich, bis er ganz zuletzt merkt, daß sie sich auf er beziehen) — wie sehr unsre Landsleute am Vaterlande hängen, bewies die reiche Spende, die sie zum Bismarckdenkmal her- übersandten. In herrlichem Gartengrün verborgen, umgeben von tropischer Blumenpracht, hat der deutsche Verein in Honolulu sein eignes Heim (hier versucht man, die Partizipia verborgen und umgeben zunächst auf Spende zu beziehen, bis man endlich merkt, daß sie zu Heim gehören sollen) — diese Idee kam von außen, aus der römisch gebildeten Umgebung des Königs und aus den Bedürfnissen des römischen Papst- tums erwuchs sie (hier merkt man erst ganz zuletzt, daß man das zweite aus, und was darauf folgt, fälschlich mit kam verbunden hat) — obgleich ich nicht wußte, ob ich sitzen bleiben dürfte oder mich zurückziehen müßte, blieb ich doch sitzen. So sehr hatte mich die bewunderns- werte Persönlichkeit des Grafen gefangen genommen, daß ich selbst die gewöhnlichsten Gesellschaftsregeln außer acht ließ (hier bezieht man so sehr zunächst auf das vorhergehende sitzen bleiben, es soll aber den kommen- den Folgesatz vorbereiten) — das ist zum erstenmal der volle, unvergleichliche Beethoven; und angesichts dieser Stelle kann man es nur mit der Eile, mit der er schrieb, entschuldigen, daß Berlioz in dieder Sinfonie nur Haydnsche Musik gesehen hat (hier bezieht jeder Leser das er, womit Berlioz gemeint ist, zunächst auf Beet- hoven). Auch wenn geschrieben wird: diese Urkunden ändern das Bild, das man sich von jenen Sekten und von der zu ihrer Vertilgung eingesetzten Inquisition gemacht hatte, nicht wesentlich — die jetzige ritter- schaftliche Vertretung besitzt in ihrer Mehrheit das nötige Verständnis für die Aufgaben ihrer Zeit nicht — so liegt derselbe Fehler vor. Daß die Urkunden das Bild nicht wesentlich ändern, erfährt der Leser zu spät; bis dahin hat er glauben müssen, sie änderten es.
Abzuhelfen ist solchen Anstößen, wie man sieht, auf die verschiedenste Weise, aber immer sehr leicht: ein denkender Schriftsteller wird sich überall schnell zu helfen $Seite 326$ wissen, sobald er nur — den Anstoß bemerkt. Aber das ist eben das schlimme, daß der Schriftsteller selber gewöhnlich solche Anstöße nicht bemerkt, nur der Leser bemerkt sie. Wie dem abzuhelfen sei? Vor allem dadurch, daß man sich beim Lesen dessen, was andre geschrieben haben, überall da, wo man hängen bleibt, sorgfältig darüber Rechenschaft gibt, warum man hängen bleibt, und dann dergleichen vermeidet. Man kann es darin bei einigem guten Willen sehr bald zu einer gewissen Fertigkeit bringen. Ein andres, sehr einfaches Mittel ist, daß man nichts naß in die Druckerei gibt, sondern alles, was man geschrieben hat, wenn auch nicht nonum in annum, so doch einige Tage lang beiseite legt und dann wieder vornimmt. In dieser Zwischenzeit ist es einem gewöhnlich so fremd geworden, daß man von all den Anstößen, die jeden andern Leser verletzen würden, selber verletzt wird, sie also noch rechtzeitig beseitigen kann.
Auf jeden Fall sollten folgende stilistische Haus- und Lebensregeln beobachtet werden: 1. schreibe Zeit-wörter, nicht Hauptwörter! 2. schreibe Hauptwörter, nicht Fürwörter! 3. schachtle nicht, sondern schreibe Nebensätze! 4. schreibe laut! schreibe nicht immer bloß für die Augen, sondern vor allem auch für die Ohren! Mit der Be-obachtung dieser Regeln und Ratschläge wird man freilich noch lange kein großer Schriftfteller, aber ohne sie auch nicht. Die Schriftstellerei ist eine Kunst, und jede Kunst hat ihre Technik, die gelehrt und gelernt werden kann. Wie der Maler malen, so muß der Schriftsteller schreiben können, und der geistvollste Schriftsteller kann sich um alle Wirkung bringen, wenn er seine Leser aller Augen- blicke durch Ungeschicklichkeiten und lumpige technische Schnitzer stört und ärgert.
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