Das Hauptwort 1. Die Form

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Buch Engel (1922): Gutes Deutsch. Ein Führer durch Falsch und Richtig.
Seitenzahlen 93 - 95

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Unsicherheit
Text

Gewisse Hauptwörter erscheinen im 1. Fall in Doppelformen auf e oder en, besonders: Friede(n), Funke(n), Gedanke(n), Gefalle(n), Glaube(n), Haufe(n), Name(n), Schade(n), Wille(n). Weil die Form mit e die ältere, die mit en eine jüngere ist, wird von den Sprachmeistern mit mehr oder weniger Nachdruck verlangt, man müsse der ,alten richtigen' Form den Vorzug geben, so sei z. B.: ,der künstlerische Gedanken' unerträglich. Er ist schon sehr vielen Gebildeten ganz erträglich geworden. Noch haben Sprachgebrauch und Sprachgefühl sich nicht bestimmt nur für die eine der Formen ausgesprochen; sie sind also beide zulässig, und das Sprachgefühl des Einzelnen, nicht eine ihm aufgezwungene Regel gibt den Ausschlag. ,Der Friede von 1871' scheint mir vorzuherrschen, doch ist darum Frieden nicht falsch. Im 4. Fall wird heute überwiegend Frieden gesagt; Bürger schrieb: ,und schlossen endlich Friede' , vielleicht des Reimes (müde) wegen. Bei Gedanke wiegt noch die Form ohne n vor: der Gedanke; aber der Gedanken ist nicht zu verbieten. Schade steht meist nur in der Formel: es ist schade, sonst überwiegend der Schaden; doch ist der Schade nicht falsch. — Außer jenen ausgesprochenen Doppelformen gibt es für Schatten die dichterische Nebenform der Schatte, für Spaten die seltene Spate, die noch seltnere der Huste neben der Husten. Die Entwicklung aller dieser Doppelformen ist noch im Fluß, und es ist so nutzlos wie überflüssig, mit Empfehlungen oder gar Verboten einzugreifen.

Von Fels, Felsen ist die erste Form die mehr dichterische, die zweite die mehr alltägliche. — Über die allein zulässige Form Tür, nicht Türe, wurde schon gesprochen (S. 68). — Hirte ist feierlicher als Hirt; mit Stirne steht es so wie mit Türe, doch kommt Stirne bei Dichtern, z. B. bei Freiligrath, vor.

$Seite 94$ Belag oder Beleg (in der Bedeutung ,Beweis')? Die Mehrzahl lautet Belege, also auch in der Einzahl besser Beleg. — Von Lehen ist die Mehrzahl Lehen, also nicht Darlehne, sondern Darlehen.

Die Hauptwortform einiger ursprünglicher Beiwörter schwankt: Äußeres, Inneres, Ganzes in Fällen wie: ein schönes (gewisses) Äußeres oder Äußere, ein großes Ganzes oder Ganze, mein ganzes Innere oder Inneres. Die Formen schwanken nicht nur in der Alltagsprache, sondern bei unsern besten Schriftstellern: Grund genug für den Sprachmeisterer, mit seinem Rüffel unnatürliche, gewaltsame Erzeugnisse der Halbwisserei' dazwischen zu fahren, wenn jemand das Verbrechen begeht, ein schönes Ganzes zu schreiben. Andre Sprachgelehrte schreiben ausdrücklich vor: ein großes Ganzes. Wie soll sich der Ungelehrte verhalten, dem es genügt, gutes Deutsch zu sprechen und zu schreiben? Wie immer: er lausche auf den Sprachgebrauch der Gebildeten und der besten Schreiber und lasse sich durch Grobheiten nicht beirren. Unzweifelhaft wird öfter ein großes Ganzes gesagt und geschrieben als ein großes Ganze; dagegen scheint ein schönes Äußere vorzuherrschen. Bei den Dichtern kommen beide Formen mit solcher Verteilung vor, daß keine feste Regel daraus abzuleiten ist. Bei Goethe: ,Ich möchte dir mein ganzes Innere zeigen. — Ein etwas wunderliches Äußeres. — Sich überflüssiges Gute zu erzeigen. — Ein ewiges Ganzes.' Bei Lessing: ,Ein desto günstigeres Äußerliche. Ein körperliches Ganze.' — Bei Schiller: ,Ein recht gutes Äußerliches.' Wir dürfen feststellen: die Form ohne s überwog in älterer Zeit, aber ohne Regelmäßigkeit selbst bei dem einzelnen Schreiber; die mit s nimmt heute zu, und wir müssen uns enthalten, einer solchen Entwicklung des lebendigen Sprachgebrauchs den einzig richtigen Weg herrisch vorzuschreiben.

Wir haben Gelassenheit, Verdrossenheit, Zuvorkommenheit, und sie werden jetzt nicht beanstandet. Luthern allerdings hatte Gelassenheit mißfallen. Dagegen wurde jüngst Anstoß genommen an dem Neuwort Gepflogenheit — ,ist nicht Brauch so ziemlich dasselbe?' Für unser Sprachgefühl ist es offenbar nicht oder doch nur so ziemlich dasselbe, und man sollte sich nicht ärgern, sondern freuen, wenn die Sprache sich für nur so ziemlich dasselbe eine neue Ab- $Seite 95$ schattung erzeugt. Daraus folgt freilich nicht, daß die Neubildungen mit heit ins Grenzenlose gehen dürfen: Gepflogenheit ist gut, aber Ungeordnetheit statt Unordnung, Verbreitetheit statt Verbreitung, Bedeutendheit statt Bedeutung sind nicht gut.

Die bräuchliche Form heißt der Bildner; bei Goethe und Schiller kommt der Bilder vor. Ist dies auch für uns erlaubt? Freilich, und erst recht, wenn dadurch der Skulptor und der Plastiker ferngehalten werden.

Wie steht's mit Langeweile? Wie sollen wir es richtig beugen? Es ist nicht leicht, es falsch zu beugen. Neben Langeweile ist Langweile erlaubt, und aus langer Weile, aus Langerweile, mit der Langweile, mit der Langenweile (. . langen Weile), aus Langweile, ja selbst aus Langeweile kommen bei den Guten und den Besten vor. Bei Goethe steht: ,vor Langerweile umkommen' .

Mein Lebelang oder mein Leben lang oder mein Lebenlang? Ganz nach eignem Geschmack; und nicht ärgern, sondern freuen sollen wir uns über solche liebenswürdige Freiheiten unsrer Sprache, die jedem gestatten, sein Sprachgefühl zu erproben.

Das hohe Lied, das Hohelied, das Hohe Lied, des Hohen Liedes, Hohenliedes, hohen Liedes — alles erlaubt.

Ein Hoherpriester, ein Hohepriester, der Hohepriester — desgleichen; aber nicht ein hoher (der hohe) Priester, denn Hohepriester ist eine selbständige Neubildung. Armer Sünder dagegen ist neben Armersünder noch das Bessere; dagegen nur Armesünderglocke (nicht: arme). — Nur Sauregurkenzeit, nicht etwa saure Gurkenzeit (vgl. S. 127).

Der Beamte, aber ein Beamter, ebenso ein Standesbeamter; der Gelehrte, aber ein Gelehrter.




Zweifelsfall

Substantiv: Grundform mit -e oder -er

Beispiel
Bezugsinstanz Umgangssprache, Literatursprache, Sprachverlauf, Sprachverlauf, Schriftsprache, gegenwärtig
Bewertung
Intertextueller Bezug