Erstes Mittelwort auf -end
Buch | Matthias (1929): Sprachleben und Sprachschäden. Ein Führer durch die Schwankungen und Schwierigkeiten des deutschen Sprachgebrauchs. |
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Seitenzahlen | 108 - 109 |
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Unsicherheit |
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In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle
Behandelter Zweifelfall: | |
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Genannte Bezugsinstanzen: | 20. Jahrhundert, Beethoven - Ludwig van, Platter - Thomas, Münsterlingen, Gegenwärtig, Alt, Behördensprache, Hauptmann - Gerhart, Keller - Gottfried, Goethe - Johann Wolfgang, Mundart, Sprachverlauf, Gesprochene Sprache, Schriftsprache, Literatursprache, Ponten - Josef |
Text |
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1) fahrende Habe u.ä. Nachdem Grimm überzeugend dargetan hat, daß das erste Mittelwort (auf -end) allen germanischen Sprachen auch in passivischer Bedeutung eigen sei, kann es jetzt keinem Grammatiker mehr einfallen, alle Verbindungen, in denen es auftritt, als falsch bezeichnen zu wollen. Man mag daher ruhig die klassischen wohl schlafenden Nächte mit samt der nachtschlafenden Zeit//1 G. Hauptmann (E. Quint) sagt bei nachtschlafener (!) Zeit.// weiter brauchen; kein Verständiger wird auch an so schönen, lebensvollen Ausdrücken rütteln, wie fahrende Habe, fahrende und reitende Post samt ihrer Ablösung, wenigstens was die Häufigkeit anlangt, durch die fahrende und reitende Artillerie oder Batterie; und die melkende Kuh wird nicht verschwinden, solange es welche gibt. Jos. Ponten (Der babylon. Turm 1919) schreibt: der löschende Kalk rauchte, gerechtfertigt durch das intransitive Zeitwort: er erlischt. Auch G. Kellers Ausdruck: Sie würde die Eltern zur gutfindenden Zeit besucht haben, muß man treffend und glücklich nennen//2 Einen anderen ähnlichen Ausdruck, auch im Salander, bezeichnet er freilich selbst als mundartlich: wünschendenfalls, wie sie in Münsterlingen sagen.//. Der Zugriff eines Genies ist Beethovens kühne Wendung: Blicke in die Natur und beruhige dein Gemüt über das Müssende. Im allgemeinen aber ist der passivische Gebrauch des ersten Mittelwortes aktiver Verben abgestorben; und niemand soll heute: seine dabei hegende Absicht, das nie leerende Krüglein, kraft meines tragenden Amtes nachmachen. Den allerschlimmsten Tadel verdienen die Fügungen mit passivischem habend, die nur eine Aufwärmung einer alten, hauptsächlich den Kanzleien angehörigen Formel sind, und das in einer Zeit, wo haben auch in anderen Formen nur noch selten passivisch angewendet wird. So stehen die in der Hand habende Orgel und die vorhabende Reise bei Goethe für uns jetzt auf gleicher, nicht mustergültiger Sprachstufe mit Ausdrücken wie: die unterhabenden Truppen, die im Besitz habenden inneren Operationslinien, die Stärke des vor sich habenden Feindes bis zu den innehabenden Geschäften, Geschäftszweigen und Räumen der Zeitungen und ihrer Anzeigeteile. Hier müssen heute Sätze eintreten: Die Räume, welche ich bisher innegehabt habe, allenfalls auch: der bisher von mir innegehabte Laden, oder andere Wörter: der vorliegende Fall u. ä. 2) Sinnende Runzeln, zeichnende Künste u. ä. Anderer Art sind folgende Wendungen, die längst gang und gäbe sind und überaus treffend in ihrer Kürze: sitzende Lebensweise, reißender Absatz, fallende Sucht, stillschweigende Voraussetzung, schwindelnde Höhe. Dasselbe gilt, von den folgenden nicht gleich geläufigen: eine lobsingende Sphäre, die schaudernde Stille, staunendes Ergötzen, schlenderndes Leben, eine weit umschauende Stelle, lächelnde Antwort, rasselnde, heute lieber rasende Eile, knieende Abbitte, schweigendes Beisammensitzen, halsbrechende Gefahr, den schachernden Tag über. In keinem dieser Fälle wird wie in den unter 1) behandelten Fällen von dem Hauptworte, zu dem diese Parti- $Seite 109$ zipien grammatisch die Beifügung sind, ausgesagt, daß es desgleichen erleide; wahrhaft malerisch, versinnlichender Weise wird vielmehr in knappster und daher bester grammatischer Fügung angedeutet, wie die durch das Hauptwort angedeuteten Tätigkeiten, Zustände und Vorgänge sich abspielen, seltener auch, was sie wirken. Und so dürfen diese Ausdrücke, die fast alle von sprachschöpferischen Dichtern herrühren, ohne Bedenken weitererben, wenn auch wenige berufen sein werden, sie selbstbildend zu vermehren. Daß übrigens solch knappe Fügungen auch mit dem zweiten Mittelworte möglich sind, mag hier nur durch einen alten Satz bei Th. Platter angedeutet werden: So fresse ich Fleisch an verbotenen Tagen. |
Zweifelsfall | |
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Beispiel | |
Bezugsinstanz | Hauptmann - Gerhart, 20. Jahrhundert, Sprachverlauf, Ponten - Josef, Literatursprache, Keller - Gottfried, gesprochene Sprache, Mundart, Münsterlingen, Beethoven - Ludwig van, alt, Behördensprache, Goethe - Johann Wolfgang, Schriftsprache, gegenwärtig, Platter - Thomas |
Bewertung |
klassisch, schön, lebensvoll, treffend, glücklich, allerschlimmster Tadel, kühn, Aufwärmung einer alten Formel, nicht mustergültig, überaus treffend, wahrhaft malerisch, versinnlichend, in knappster und daher bester grammatischer Fügung |
Intertextueller Bezug | Grimm |