Schwanken zwischen zweiter und erster Vergangenheit
Buch | Matthias (1929): Sprachleben und Sprachschäden. Ein Führer durch die Schwankungen und Schwierigkeiten des deutschen Sprachgebrauchs. |
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Seitenzahlen | 358 - 359 |
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Unsicherheit |
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In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle
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Nicht jedes Imperfekt, das an einer Stelle steht, wo das Perfekt früher die Regel gewesen wäre, verdient so leidenschaftlich verfolgt zu werden wie heute noch fast in allen Sprachlehren; wenn anders nur die Sache nicht an sich verbietet, eine gewisse Teilnahme dafür zu haben oder mehr oder minder aufrichtig zu zeigen oder zu erwarten//1 Die Berichterstatter tun das allgemein, drum melden sie oft derartig: Das Abgeordnetenhaus beschloß, im Jahre 1895 eine Nationalausstellung in Pest zu veranstalten. — Dazu ist wenigstens der erste Berichterstatter oft Augen- und Ohrenzeuge und an der Spitze der Meldung steht wie bei jener: Pest, 10. Dez. — Im mündlichen Verkehr, beim Weitergeben der bloßen Mitteilung ist eben darum das Perfekt viel häufiger.//. Denn wenn so das anklingen kann, was überhaupt am Imperfekt das Wesentliche ist, was sollte dann hindern, auch für eine einzelne, nicht mißverständliche Zeitangabe die einfachere, gefälligere und darum schönere Imperfektform zu sehen statt der schwerfälligeren des Perfekts? Ich möchte daher wahrlich nicht mit über den Romandichter herfallen, der z. B. geschrieben hat: Wies man Ihnen bereits ein Zimmer an? — Als gegenwärtige Sorge wüßte ich einzig Armida zu nennen; aber ich schuf sie mir ja selbst (v. Heigel). Wenn schon Schillers Übersetzung: Wir waren Trojaner, Troja hat gestanden, wegen des Wechsels nicht nachahmenswert und auf Rechnung des Verses zu sehen sein mag, so wird niemand leugnen können, daß der Ruf, der vor fünf Jahrzehnten durch manche Zeitungen hallt: Szegedin war! Alt-Szegedin war! gleich sinngemäß und wohltönender war, als wenn er gelautet hätte: Szegedin ist gewesen! Alt-Szegedin ist gewesen! Auch mit denen sollte man nicht rechten, die mit einem Imperfekt auf eine frühere Ausführung in einem eigenen Werke verweisen, natürlich $Seite 359$ auf Rückerinnerung daran rechnend, oder auf eine frühere Behandlung desselben Stoffes durch andere, ebenso natürlich eine Bekanntschaft damit voraussetzend. Ein Germanist schreibt: Wesen und Bildung der Gemeinsprache zu betrachten ist eine Aufgabe, die wir notwendigerweise bis zuletzt verschieben mußten; und ein andrer: So ist auch mein Neudruck des Sprachverderbers so gut wie unbekannt geblieben; auch solchen ist keine Kunde davon geworden, denen er hätte willkommen sein müssen. So hat H. Dünger in seiner Einleitung .... seiner nicht gedacht. Nur die Sprachposaune vom Jahre 1648 benutzte er und entnahm ihr einige Stellen, aus denen ich ersah usw. Hier hat offenbar die innerliche Teilnahme, mit der der Herausgeber besagter Schriften ihre Benutzung verfolgt hat, und die Rücksicht auf den Wohlklang, dem zuliebe die eintönig zusammengesetzten Perfekte durch je und je eigenartige Imperfekte ersetzt werden sollten, zusammengewirkt, um bei dem Sinnesabschnitte die neue klangvollere Zeitform wählen zu lassen. Die Voraussetzung innerer, lebhafterer Vergegenwärtigung spricht sich auch aus, wenn es in einer sittengeschichtlichen Plauderei heißt: Wurde im vorhergehenden Artikel eine Charakteristik des Nihilismus und seiner Ziele gegeben, so wird sich hieran eine kurze Betrachtung der Mittel zu schließen haben usw., oder öfter in Schaltsätzen also: wie ich schon sagte, wie ich bereits nachwies u. ä., wo natürlich das Perfekt ebensogut möglich wäre. Endlich noch einen jener häufigen Sätze, mit denen auf alle früheren Leistungen oder Erscheinungen der gleichen Art hingewiesen wird, auch aus der Feder eines Professors: Nur ein idealer Sinn kann die Alpenwelt mit solcher Begeisterung in sich aufnehmen und so liebenswürdig und bescheiden von dem erzählen, was andre von ihm niemals erreichten, ein Beispiel, das dadurch besonders lehrreich werden kann, daß es ganz seinesgleichen schon auf der alten Stufe unserer Sprache findet, im Nibelungenliede z. B.: der schande, die ie künec gewan, wie bei Walther: wer gesach ie bezzer jâr?//1 An ein solches geschichtliches Verhältnis denken die gar nicht, welche gegen diesen zuletzt besprochenen Gebrauch des Imperfekts zu Felde ziehn und sich auch darum nicht kümmern, daß sie die tatsächliche Entwicklung mit Tausenden von solchen Beispielen, wie oben nur einige angeführt sind, gegen sich haben. Diese Entwicklung darf auch nicht, weil sich Schopenhauer vom Sprachstande vor hundert Jahren darüber ereifert, als unberechtigt oder ganz neu hingestellt werden. Davor sollte schon die Häufigkeit solcher Imperfekte bei den Klassikern warnen. Eine unüberbrückbare Kluft trennt in solcher Hinsicht die Dichter nicht von den Prosaikern. Beruht doch auf ihrem Vorgange zum großen Teil die Bereicherung des Sprachschatzes und die Steigerung der Redegewandtheit beim Durchschnittsmenschen! Mag es also immerhin sein, daß diese Imperfekte der Dichter die Phantasie dazu anregen sollen, sich den Zusammenhang des nur angedeuteten Vorganges selbst auszumalen, so ist der Widerschein dieser in der Poesie dem Imperfekt eigenen Bedeutung in der Prosa, wie schon oben gezeigt, die teilnehmende Erregung, die der Redende zeigt oder beim Hörer voraussetzt. Dazu kommt, daß den Dichtern und von ihnen aus in Prosa diese Anwendung des Imperfekts nicht möglich gefallen wäre, wenn sie sich nicht auf das alte Wesen dieser Zeit gründete. Denn sie ist ursprünglich gar nicht, jetzt nicht ausschließlich, wie Wustmann meint, Nachäffung des Englischen, sondern, wie dichterische und gewähltere Ausdrucksweise so oft, Rückerinnerung an ältere Zeiten; in diesen wurden ja nicht nur die heute präsentisch gewordenen alten Präterita wie ich weiß (= ich sah beobachtend und weiß nun), sondern überhaupt das Imperfekt so gebraucht wie — neuerdings wieder. Im Iwein Hartmanns v. Aue steht z. B.: Ein Ritter, der gelêret was, der tihte ditz maere. Mehr bei Erdmann, Grundzüge der deutschen Syntax I, 143. Warum sollte also nicht auch die Prosa darauf zurückkommen dürfen, natürlich nur, wenn wenigstens leise eine innere $Fußnote auf nächster Seite fortgeführt$ Erregung darin zittert, zumal das Imperfekt nicht nur kürzer und bei Telegrammen billiger ist, auch formschöner und wohlklingender. Wohin man kommt, wenn man sich einer Sprachtatsache gegenüber auf eine glatte — hergebrachte Regel versteift, zeigt sich darin, daß ein Sprachmeister die Luthersche Übersetzung von Joh. 12, 29: Das Volk sprach: es donnerte; die andern: es redete ein Engel mit ihm, der neuen Weizsäckerschen nachstellt: Man sagte, es habe gedonnert; andre sagten: ein Engel hat mit ihm gesprochen. Als ob da nicht die Lebhaftigkeit gänzlich geschwunden wäre, mit der die verschiedenen sagen, was sie gerade erst wahrgenommen zu haben wähnen. Überhaupt gilt es hier nicht über einen Kamm zu scheren, sondern jedem die Freiheit der Auffassung zu lassen.// |
Zweifelsfall | |
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Beispiel | |
Bezugsinstanz | alt, alt, Literatursprache, Zeitungssprache, Literatursprache, Schreiber guten Stils, Literatursprache, alt, Fachsprache (Germanistik), gegenwärtig, Literatursprache, Hartmann von Aue, gegenwärtig, Luther - Martin, gesprochene Sprache, neu, neu, Literatursprache, Wissenschaftssprache, Schriftsprache, Schriftsprache, gesprochene Sprache, Literatursprache, Schiller - Friedrich, alt, Fachsprache (Kulturwissenschaft), Telekommunikation, ursprünglich, Heigel - Karl August von, 19. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, 18. Jahrhundert, Walther von der Vogelweide, Weizsäcker - Carl Heinrich, Zeitungssprache |
Bewertung |
auf Rechnung des Verses zu setzen sein mag, besonders lehrreich, billiger, dichterische und gewähltere Ausdrucksweise, ebensogut möglich, eigenartige, einfachere, eintönig zusammengesetzten, formschöner, Frequenz/häufigen, Frequenz/Häufigkeit, Frequenz/oft, Frequenz/Tausenden von solchen Beispielen, Frequenz/viel häufiger, früher die Regel gewesen, gar nicht Nachäffung des Englischen, gefälligere, gilt es hier nicht über einen Kamm zu scheren, sondern jedem die Freiheit der Auffassung zu lassen, gleich sinngemäß, Ich möchte daher wahrlich nicht über den Romandichter herfallen, der, klangvollere, kürzer, mit denen sollte man nicht rechten, natürlich, Nicht jedes Imperfekt verdient so leidenschaftlich verfolgt zu werden, nicht nachahmenswert, Rückerinnerung an ältere Zeiten, Rücksicht auf den Wohlklang, schönere, schwerfälligeren, Warum sollte also nicht auch die Prosa darauf zurückkommen dürfen, wohlklingender, wohltönender |
Intertextueller Bezug | Schopenhauer, Wustmann, Erdmann: Grundzüge der deutschen Syntax I, 143, Sprachmeister |