Starke und schwache Formen neben- und durcheinander
Buch | Matthias (1929): Sprachleben und Sprachschäden. Ein Führer durch die Schwankungen und Schwierigkeiten des deutschen Sprachgebrauchs. |
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Seitenzahlen | 93 - 95 |
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Unsicherheit |
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In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle
Behandelter Zweifelfall: | |
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Genannte Bezugsinstanzen: | 20. Jahrhundert, Vischer - Friedrich Theodor, Gundolf - Friedrich, Schmitz - Oscar A.H., Heer - Jakob Christoph, Augsburg, Tanzmann - Bruno, Findeisen - Kurt Arnold, Fachsprache (Philosophie), Hart - Heinrich, Literatursprache, Zeitungssprache, Jensen - Wilhelm, Volk, Eltze - A. (?), Freytag - Gustav, Redewendung/Sprichwort |
Text |
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Die Abstumpfung des Gefühles für die Unterschiede starker und schwacher Biegung hat auch das arge Durcheinander in den Formen der Wörter erschrecken, löschen, quellen, schmelzen, schwellen, hängen (und hangen) und verderben verschuldet. Jedes dieser Verben birgt nämlich trotz der meist gleichen Präsensformen zwei verschiedene Wörter in sich, ein intransitives starkes (z. B. ich erschrecke = ich fahre zusammen, ich erschrak, erschrocken) und ein transitives schwaches (ich erschrecke ihn, erschreckte ihn, habe ihn erschreckt): und wenn schon bei hängen, schmelzen und verderben auch transitiv für die starken Formen das Übergewicht zuzugeben ist, so sind deshalb bei den anderen noch nicht umgekehrt die schwachen statt der starken zu dulden. Die „Heimat" ist also zu rügen für ein: Erschreck (statt erschrick) nicht! Findeisen für den Ausdruck: das Feuer erlöscht (statt: erlischt), und die Augsbg. Allg. Z., trotzdem sie darin mit Schiller zusammentrifft, für den ähnlichen: das Licht erlöschte statt (v)erlosch, wie es immer bei Freitag heißt. Selbst von jenen letzten drei sind noch bei schmelzen und hängen intransitiv die starken, transitiv die schwachen Formen richtiger. So ist es, ganz zu schweigen von gehenkt werden, trotz des Sprichwortes: Mitgefangen, mitgehangen richtiger zu sagen: er ist erhängt aufgefunden worden; und Fr. Th. Vischer sagt besser: in Goethes römischen Elegien ist aus der Schlackenglut eines Naturverhältnisses das poetische Gold ausgeschmelzt, als das Volk, in dessen Weise bereits überwiegt: die Sonne hat den Schnee schon ziemlich weggeschmolzen. Bei verderben dagegen wäre es vergebliches Bemühen, den Übertritt der starken Formen ins Transitivum noch bekämpfen zu wollen; denn da ist gewöhnlich die Unentschlossenheit verdirbt (statt richtiger verderbt) den Charakter, die Nässe soll einige Dutzend Exemplare verdorben haben //1 Selbst daß es von moralischer Schlechtigkeit adjektivisch nur verderbt heißen soll, gilt nicht mehr. Ein und derselbe Eltze bietet: Zudem sind die Reichen meist sehr verderbt, und: die demokratischen Führer in einigen Staaten sind sehr verdorbene schlechte Subjekte. — Die Tätigkeit des Henkers heißt natürlich henken: er henkte ihn, er wurde gehenkt.// . Auch neben wiegen (wog, gewogen: Gewicht haben, Gewicht fest- $Seite 94$ stellen) ist wägen im zweiten Sinne selten geworden, wenn auch Heer (1915) wieder schreibt: die Säcke abzuwägen, und Br. Tanzmann prophetisch: Alle Worte nahm ich in die Hand und wägte sie. Schlimmer ist die Vermengung der Formen derjenigen Verben, die in demselben Verhältnisse, den Zustand und das Versetzen in denselben bezeichnend, (also als intransitive und transitive kausative) nebeneinander stehen, aber verschiedene Formen haben, wie sinken und senken, fallen und fällen. So schreibt z. B. Jensen fehlerhaft und lächerlich zugleich: die kleine Tür, in welcher gerade Se. Majestät in Ihre ästhethische Betrachtung versenkt stand; man fragt unwillkürlich: von wem denn? und erwartet: versunken. Willkürliche Ausdehnung des i-Wechsels ist es endlich, wenn H. Hart schreibt: ein zu einer großen Einheit zusammenschwillendes Konzert. Oft hat die Sprache von demselben Worte entwickelte ursprüngliche starke und jüngere Formen feinfühlig so verwandt, daß diese in gewöhnlicherem Sinne, jene in altertümlicher Weise und in übertragenem Sinne stehn. Man vergleiche: Sie pflogen Rats. Mählich umwob uns die Erinnerung an die alte Zeit. Nur sein Drängen bewog (= veranlaßte) uns zu dem Schritte, und: Sie pflegte den Kranken aufopfernd. Der Wind bewegte das Wasser. Die Nachricht bewegte ihn so heftig, daß er in Tränen ausbrach. Das starke schaffen (schuf, geschaffen) bezeichnet den Schöpfungsakt, geistiges Hervorbringen: Gott hat die Welt, noch niemand wieder ein Werk wie Goethes Faust geschaffen; das schwache mehr werktätiges Arbeiten, Fertigbringen: er hat den ganzen Tag geschafft; es muß Wandel, Abhilfe geschafft werden. Von den Sternen am Himmel wie des Ruhmes heißt es: sie sind ver-, erblichen; aber vom Verbrecher: er ist erbleicht (bleich geworden), wie auch das Garn gebleicht (= bleich gemacht) worden ist. Umgekehrt heißt es: der Wein hat gegoren, aber es gärte in ihm. Manchmal ist die eine Form hauptsächlich transitiv, die andere intransitiv: so heißt es gewöhnlich sie hat Eier gesotten, gesottene Fische, aber das Wasser siedete; umgekehrt ist stiebte, stäubte gewöhnlich transitiv in der Bedeutung wie Staub zerstreuen, und stob, gestoben intransitiv in der Bedeutung: (infolge schneller Bewegung oder infolge Zertrümmerung) wie Staub fort oder auseinander fliegen. Auch sogar ganz verschiedene Stämme sind manchmal ganz oder teilweise zusammengefallen. So steckt in laden ein aufladen bedeutendes starkes Verb (du lädst, lud, geladen), und ein zu sich bitten bedeutendes schwaches (du ladest, ich ladete), aber heute herrscht wenigstens in der Vergangenheit nur noch jenes: er lud das Gewehr und sie lud Gäste ein; nur im Präsens ist wohl in der zweiten Bedeutung noch du ladest, er ladet neben du lädst ein, er lädt ein, zu dulden, nimmer aber, wie eine Schriftstellerin schreibt, in der ersten Anwendung: er ladet (statt lädt) den Zorn des Vaters auf sich, die Flinte entladet (statt entlädt) sich. Endlich einige Wörter, bei denen schwache und starke Formen ganz gleichbedeutend nebeneinander stehn, sind glimmen, (glomm und glimmte), klimmen (erklimmt und erklommen), schallen (scholl und schallte) und schnauben (schnob und schnaubte). Aus der Sprache der jüngsten Philosophie dringt in der Bedeutung „[überpersönliches] Dasein haben, geben" jetzt schon in den Roman ein schwach durchgebeugtes wesen ein, das sonst nur noch in den starken Formen war, wäre, gewesen des Hilfszeitworts sein und der Substantivierung das Wesen $Seite 95$ vertraut war. Vgl.: Der Harfner und Mignon bezeugen sich als übergesellschaftliche, unbedingt im Reich der Seele und des Schicksals wesende Geschöpfe, und: Diese Ausstrahlung macht das Leben nicht, es west sie (Gundolf); und Jubal erkannte, daß im innersten Seelengrund eine unzersplitterte Einheit west (Osk. Schmitz). |
Zweifelsfall | |
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Beispiel |
erschrecken, löschen, quellen, schmelzen, schwellen, hängen, hangen, verderben, erschrecke, erschrak, erschrocken, erschreckte, erschreckt, erschreck, erschrick, erlöscht, erlischt, erlöschte, erlosch, verlosch, gehenkt, mitgefangen, mitgehangen, erhängt, ausgeschmelzt, weggeschmolzen, verdirbt, verderbt, verdorben, wiegen, wog, gewogen, verdorbene, henken, henkte, wägen, abzuwägen, wägte, sinken, senken, fällen, fallen, versenkt, versunken, zusammenschwillendes, pflogen, umwob, bewog, pflegte, bewegte, schaffen, schuf, geschaffen, geschafft, verblichen, erblichen, erbleicht, gegoren, gärte, gesotten, gesottene, siedete, stiebte, stäubte, stob, gestoben, laden, lädst, lud, geladen, ladest, ladete, ladet, lädt, entladet sich, entlädt sich, glimmen, glomm, glimmte, klimmen, erklimmt, erklommen, schallen, scholl, schallte, schnauben, schnob, schnaubte, wesen, war, wäre, gewesen, sein, wesende, west, verderbt |
Bezugsinstanz | 20. Jahrhundert, Augsburg, Zeitungssprache, Eltze - A. (?), Findeisen - Kurt Arnold, Freytag - Gustav, Gundolf - Friedrich, Hart - Heinrich, Heer - Jakob Christoph, Zeitungssprache, Jensen - Wilhelm, Fachsprache (Philosophie), Schmitz - Oscar A.H., Literatursprache, Redewendung/Sprichwort, Tanzmann - Bruno, Vischer - Friedrich Theodor, Volk |
Bewertung |
Abstumpfung des Gefühls, altertümlich, bekämpfen, besser, Durcheinander, fehlerhaft, feinfühlig, Frequenz/gewöhnlich, Frequenz/selten, lächerlich, nicht, nicht zu dulden, nimmer, richtiger, schlimmer, statt, willkürlich |
Intertextueller Bezug |