Tonverschiebungen; doppeltonige und überflüssige Zusammensetzungen
Buch | Matthias (1929): Sprachleben und Sprachschäden. Ein Führer durch die Schwankungen und Schwierigkeiten des deutschen Sprachgebrauchs. |
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Seitenzahlen | 21 - 23 |
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Unsicherheit |
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In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle
Behandelter Zweifelfall: | |
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Genannte Bezugsinstanzen: | Schreiber guten Stils, Laukhard - Friedrich Christian, Literatursprache, Zeitungssprache, Jensen - Wilhelm, München, Sprache der Kunst |
Text |
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1. Auf dem zweiten statt ersten Teile des Bestimmungswertes werden mehr als zweiteilige Zusammensetzungen betont, wenn schon das zusammengesetzte Bestimmungswort für sich den Hauptton auf dem Grundworte trüge wie: Gründonnerstag, Karfreitag, überland[gehn], oder wenn beim losen Nebeneinander von Eigenschafts- und Hauptwort, wie gewöhnlich, das letztere betont ist wie bei den Alten Herren (nicht mehr Aktive einer Verbindung), dem Roten Kreúz, den Drei Königen, also: Karfreitagszauber, Gründonnerstagsstimmung, Überlandzentrale, Altherrenverband, Rotkreuzlotterie, Dreikönigsfest. 2. Ebenso wenn der innerste Zweck der Zusammensetzung, einen neuen einheitlichen Begriff zu schaffen, nach Lage der Sache nicht erreicht wurde, drang auch das Gesetz nicht durch, und Zusammensetzungen, deren beide Teile das gleichwertige Nebeneinander zweier Begriffe innerhalb einer Einheit bezeichnen sollen, zeigen beide Wörter gleichstark betont: Schwéden-Nórwegen, kaíserlich-königlich, saúersüß, ein freúdvoll-schmérzlicher Anblick, die Féldherren-Prínzen, und bei Magister Laukhard gar eine Ableitung von einer solchen Doppelung: er vettermichelte sich bei verschiedenen Offizieren ein. $Seite 22$ So berechtigt solche Doppelworte an sich als kürzester Ausdruck für das angedeutete Verhältnis sein mögen, so wird doch eben jetzt schlimmer Unfug damit getrieben. Es entstehen nämlich auf diesem Wege entweder neue langschwänzige Zusammenschweißungen, vor denen zu warnen nur die „Studierenden-Offiziers-Aspiranten" antreten mögen. Oder, und das noch häufiger, es verursachen solch aneinandergerückte Adjektive (und Adverbien) doppelte Unklarheit. Man mag zwar Verbindungen wie: ein sonnig-lieblicher Frühlingstag, ein zynisch-spöttischer Vorschlag, schrill-mißtönig, leiblich-dinglich, geistig-seelisch, das Bodenständig-Nationale, das Kosmopolitisch-Internationale, den gütig-klugen Menschen und den friedlich-redlichen Bürger des fremden Staates mit der nur einmal gesetzten Deklinationsendung bequem finden, und auch unbedenklich, weil die Begriffsverwandtschaft solcher Wörter nicht dazu einlädt, im ersten eine Artbestimmung des zweiten zu suchen. Im allgemeinen fühlt man sich gleichwohl immer veranlagt, solche Zusammensetzungen nach Art der wirklich mit adjektivisch-adverbialem Bestimmungsworte eigentlich zusammengesetzten Adjektive aufzufassen und demgemäß nur auf dem ersten Teile zu betonen. Oder wenn man liest: ein kaltbleicher Frühschein, unbeabsichtigt-mechanisch führte der Fuß sie dahin, mit irrunsicherm Blicke, dunkel-schwer aufziehende Wolken, mit einem (!) wundersamruhevoll-seligen Pochen in der Brust u. ä., fühlt man sich da nicht verleitet zu fragen, ob es auch einen warmbleichen Frühschein, beabsichtigt-mechanisches Tun usw. gäbe? Denn bekanntlich enthalten einem Nomen vorgesetzte Bestimmungen immer die enger beschränkende Angabe, die durch Gegensetzung gewonnen und eben darum betont wird. Und wenn man nun schließlich auch einsieht, daß es so — albern nicht gemeint sein kann, so bleibt doch immer der Mißbrauch der eigentlichen adjektivischen Zusammensetzung (rótbraun) und der Bestimmung des Adjektivs durch Adverbien (rein genau Gow.) bestehen, der rückwirkend zu einer Trübung auch dieser sonst üblichen Zusammenstellung führt. Schreibt doch schon ein gefeierter Erzähler von einem merkwürdig (statt merkwürdigen) alten Herrn und die Tägl. Rundschau von Haaren einer Unglücklich-Wahnsinnigen statt unglücklichen Wahnsinnigen. Gönne man doch gleichwertigen Bestimmungen auch die gleiche Form und nenne die Lebensführung eines Menschen, die teils wüst, teils trunken ist, nicht wüsttrunken, sondern wüst und trunken, eine Nacht, die eisigkalt und durch schaurige Ereignisse schrecklich ist, nicht eine eisig-schaurige, sondern eine eisige, schaurige Unglücksnacht und sage nicht schlicht-unbeabsichtigte, sondern schlichte, unbeabsichtigte Weise, nicht eine gesund-kräftige, sondern gesunde, kräftige Erscheinung und noch weniger ein gleichmäßig ernstfreundliches, sondern ernstes und freundliches Wesen. Oft wirken offenbar Einflüsse der Dichtung, die gern das Wallen und Wogen der Stimmungen malt, wenn in solcher Weise schwer Vereinbares, namentlich Äußerungen zugleich verschiedener Sinne oder dieser und der Seele in eins zusammengepreßt werden, wie in den Wendungen: dunkel-ratlos lag das Pfarrhaus da, es regen sich leisgeheime Säfte. Aber diese scheinbar malende und doch nur verschwommene und empfindelnd gefühlvolle Darstellungsweise führt zu nichtssagenden Wiederholungen, wenn da, wo ein Begriff genügte, noch ein verwandter angeschweißt wird; ausdrucksvoll-lebendig, engelhaft-überirdisch, unversehen-plötzlich, einfachnatürliches Gefühl. $Seite 23$ Übrigens sind alle diese übersättigten Verbindungen vom kaltbleichen Frühscheine an nur ein kleiner Bruchteil eines langen Sündenregisters aus zwei Werken eines Führenden wie Jensen. Wenn die Meister so künsteln und pressen, ist es freilich kein Wunder, daß solch tändelndes, verschwommenes Gemale auch in Zeitungen, besonders in Kunstbesprechungen und Stimmungsbildern und in allerhand Schilderungen, auch der Romane, beliebt wird. Haben doch die Münchner Künstler einen Raum für edel-künstlerische Festesmöglichkeiten beantragt, wohl weil etwa(n)ige edlere, künstlerische Feste zu klar und zu gewöhnlich war für die heut so hehre, zielunsichere Kunst?! |
Zweifelsfall | |
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Beispiel | |
Bezugsinstanz | Literatursprache, Jensen - Wilhelm, Laukhard - Friedrich Christian, Schreiber guten Stils, München, Sprache der Kunst, Zeitungssprache |
Bewertung | |
Intertextueller Bezug |