Das Binde-s
Buch | Wustmann (1903): Allerhand Sprachdummheiten. Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen |
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Seitenzahlen | 75 - 77 |
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Unsicherheit |
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In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle
Behandelter Zweifelfall: | |
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Genannte Bezugsinstanzen: | Niederdeutsch, 16. Jahrhundert, Richter - Johann (Jean) Paul Friedrich, Leipzig, Mittelhochdeutsch, Deutschland, Rhein, Gegenwärtig, 19. Jahrhundert, Alt, Neu, Lessing - Gotthold Ephraim, Sprachverlauf, Schiller - Friedrich, Schriftsprache, Zeitungssprache, Neuhochdeutsch, Berlin |
Text |
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In unerträglicher Weise greift jetzt das unorganisch eingeschobne s in zusammengesetzten Wörtern um sich. In Himmelstor, Gotteshaus, Königstochter, Gutsbesitzer, Feuersnot, Wolfsmilch kann man ja überall das s als die Genitivendung des männlichen oder sächlichen Bestimmungswortes auffassen, wiewohl es auch solche Zusammensetzungen gibt, in denen der Genitiv keinen Sinn hat, das s also nur als Bindemittel betrachtet werden kann, z. B. Rittersmann, segensreich (Schiller hat in der Glocke noch richtig segenreiche Himmelstochter geschrieben). Aber wie kommt das s an Wörter weiblichen Geschlechts, die gar keinen Genitiv auf s bilden können? Wie ist man dazu gekommen, zu bilden: Liebesdienst, Hilfslehrer, Geschichtsforscher, Bibliotheksordnung, Arbeitsliste, Geburtstag, Hochzeitsgeschenk, Weihnachtsabend, Fastnachtsball, Großmachtspolitik, Zukunftsmusik, Einfaltspinsel, Zeitungsschreiber, Hoheitsrecht, Sicherheitsnadel, Wirtschaftsgeld, Konstitutionsfest, Majestätsbeleidigung, ausnahmsweise, rücksichtsvoll, vorschriftsmäßig? Dieses Binde-s stammt ebenso wie das falsche Plural-s (vgl. S. 22) aus dem Niederdeutschen. Dort wird es wirklich aus Verlegenheit gebraucht, um namentlich von artikellosen weiblichen Hauptwörtern einen Genitiv zu bilden, aber immer nur einen voranstehenden, wie Mutters Liebling, vor Schwesters Tür, Madames Geschenk (in Leipzig 1593: nicht einer Nadels Wert; Lessing: Antworts genug, über Naturs Größe), und so ist aus diesem Verlegenheits-s dann das Binde-s geworden. Es gehört aber erst der neuern Zeit an. Im Mittelhochdeutschen findet es sich nur vereinzelt, erst im Neuhochdeutschen ist es eingedrungen, hat sich dann mit großer Schnelligkeit verbreitet und sucht sich noch immer $Seite 76$ weiter zu verbreiten. Schon fängt man an zu sagen: Doktorsgrad, Wertspapiere, Raumsgestaltung, Zugsverbindung, Gesteinsmassen, Gewebslehre, Gesangsunterricht, Examensvorbereitung, Aufnahmsprüfung, Einnahmsquelle, Niederlagsraum, Schwadronsbesichtigung, ja in einzelnen Gegenden Deutschlands, namentlich am Rhein, sogar schon Stiefelsknecht, Erbsmasse (statt Erbmasse), Ratshaus, Stadtsgraben, Nachtswächter, Kartoffelsbrei, Zweimarksstück, schiffsbrüchig u. a. In Leipzig sind wir vor kurzem mit einem Kajütsbureau beglückt worden (!). Das widerwärtigste wegen ihrer Häufigkeit sind wohl die Zusammensetzungen mit Miets- und Fabriks-; das Mietshaus, die Mietskaserne, der Mietspreis, das Fabriksmädchen, das tollste der in rheinischen Städten übliche Stehsplatz und der Verpflegsdienst. Das Binde-s hinter einem Verbalstamm eingeschmuggelt! Nur eine Wortgattung hat sich des Eindringlings bis jetzt glücklich erwehrt: die Stoffnamen. Von Gold, Silber, Wein, Kaffee, Mehl, Zucker usw. wird nie eine Zusammensetzung mit dem Binde-s gebildet. Nur mit Tabak hat man es gewagt: Tabaksmonopol, Tabaksmanufaktur, natürlich durch das verwünschte k verführt. Der Fabrikstabak und die Tabaksfabrik sind einander wert. Die Tabakspfeife geht freilich schon weit zurück. Wo das falsche s einmal festsitzt, da ist nun freilich jeder Kampf vergeblich, und das ist der Fall bei allen Zusammensetzungen mit Liebe, Hilfe, Geschichte, hinter vielen weiblichen Wörtern, die auf t endigen, ferner bei allen, die mit ung, heit, keit und schaft gebildet sind, endlich bei den Fremdwörtern auf ion und tät. Hier jetzt noch den Versuch zu machen, das s wieder loszuwerden, wäre wohl ganz aussichtslos.//* Jean Paul hat schon 1817 einmal den Versuch gemacht, diese s-Krätze, wie er es nannte, zu bekämpfen, merzte auch aus einer neuen Auflage seines Siebenkäs alle falschen s aus. Es ist aber vergeblich gewesen. Und ebenso vergeblich wird es sein, daß es jetzt der Herausgeber der in Berlin erscheinenden Wochenschritft Die Zukunft wieder versucht. Die Mitarbeiter sollten sich das einfach verbitten.// $Seite 77$ Wo es sich aber noch nicht festgesetzt hat, wo es erst einzudringen versucht, wie hinter Miete und Fabrik, da müßte doch der Unterricht alles aufbieten, es fernzuhalten, das Sprachgefühl für den Fehler wieder zu schärfen. Es ist das nicht so schwer, wie es auf den ersten Blick scheint, denn dieses Binde-s ist ein solcher Wildling, daß es nicht die geringste Folgerichtigkeit kennt. Warum sagt man Rindsleder, Schweinsleder, vertragsbrüchig, inhaltsreich, beispielsweise, hoffnungslos, da man doch Kalbleder, Schafleder, wortbrüchig, gehaltreich, schrittweise, gefühllos sagt? Hie und da scheint wieder der Rhythmus im Spiele zu sein, aber nicht immer. Nach Hilfe wird übrigens in der guten Schriftsprache ein Unterschied beobachtet: man sagt Hilfsprediger, Hilfslehrer, Hilfsbremser, hilfsbedürftig und hilfsbereit, auch aushilfsweise, dagegen Hilferuf und Hilfeleistung, weil man bei diesen beiden das Akkusativverhältnis fühlt, bei den übrigen bloß die Zusammensetzung. Ähnlich ist es mit Arbeitgeber im Gegensatz zu Arbeitsleistung, Arbeitsteilung, staatserhaltend (wie vaterlandsliebend) im Gegensatz zu kriegführend. Niemand redet von kriegsführenden Mächten, auch nicht von Kriegsführung, weil hier die einzelne Handlung vorschwebt und deshalb der Akkusativ (Krieg) deutlich gefühlt wird, während staatserhaltend und vaterlandsliebend eine dauernde Gesinnung bezeichnen. Aber kaum hat man sich über den feinen Unterschied gefreut, so stößt man in der nächsten Zeitungsnummer auf den geschäftsführenden Ausschuß und auf die vertragsschließenden Parteien.//* Unter den Hunderten mit Liebe gebildeten Zusammensetzungen haben nur wenige das s nicht: liebreich, liebevoll, liebeglühend, liebetrunken, liebedienerisch, Liebedienerei, einige wohl deshalb, weil hier mehr ein dativisches Verhältnis gefühlt wird.// |
Zweifelsfall | |
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Beispiel | |
Bezugsinstanz | Rhein, neu, Berlin, Zeitungssprache, Deutschland, Leipzig, 16. Jahrhundert, Rhein, Richter - Johann (Jean) Paul Friedrich, gegenwärtig, alt, Lessing - Gotthold Ephraim, Sprachverlauf, mittelhochdeutsch, neuhochdeutsch, niederdeutsch, Schiller - Friedrich, 19. Jahrhundert, Schriftsprache, Sprachverlauf, Zeitungssprache |
Bewertung |
unerträglich, das widerwärtigste, das tollste, verwünscht, ein solcher Wildling |
Intertextueller Bezug |