Fachliche Bildung oder Fachbildung?

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Buch Wustmann (1903): Allerhand Sprachdummheiten. Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen
Seitenzahlen 180 - 185

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Unsicherheit
Text

In beängstigender Weise hat in neuerer Zeit die Neigung zugenommen, statt des Bestimmungswortes einer Zusammensetzung ein Adjektiv zu setzen, also z. B. statt Fachbildung zu sagen: fachliche Bildung. Sie hat in kurzer Zeit riesige Fortschritte gemacht, wie sie sich nur daraus erklären lassen, daß diese Ausdrucksweise jetzt für besonders schön und vornehm gilt. Früher sprach man von Staatsvermögen, Gesellschaftsordnung, Rechtsverhältnis, Kriegsereignissen, Junkerregiment, Soldatenlaufbahn, Bürgerpflichten, Handwerkstraditionen, Geschäftsverkehr, Sonntagsarbeit, Kirchennachrichten, Kultusordnung, Gewerbeschulen, Betriebseinrichtungen, Bergbauinteressen, Forstunterricht, Steuerfragen, Fachausdrücken, Berufsbildung, Amtspflichten, Schöpferkraft, Gedankeninhalt, Körperbewegung, Sprachfehlern, Lautgesetzen, Textbeilagen, Klangwirkungen, Gesangvorträgen, Frauenchören, Kunstgenüssen, Turnübungen, Studentenaufführungen, Farbenstimmung, Figurenschmuck, Winterlandschaft, Pflanzennahrung, Abendbeleuchtung, Nachtgespenstern, Regentagen, Landaufenthalt, Gar- $Seite 181$ tenanlagen, Nachbargrundstücken, Elternhaus, Gegenpartei, Endresultat usw. Jetzt redet man nur noch von staatlichem Vermögen, gesellschaftlicher Ordnung, rechtlichem Verhältnis, kriegerischen Ereignissen, junkerlichem Regiment, soldatischer Laufbahn, bürgerlichen Pflichten, handwerklichen Traditionen, geschäftlichem Verkehr, sonntäglicher Arbeit, kirchlichen Nachrichten, kultischer (!) Ordnung, gewerblichen Schulen, betrieblicher Einrichtung, bergbaulichen Interessen, forstlichem Unterricht, steuerlichen Fragen, fachlichen Ausdrücken, beruflicher Bildung, amtlichen Pflichten, schöpferischer Kraft, gedanklichem Inhalt, körperlicher Bewegung, sprachlichen Fehlern, lautlichen Gesetzen, textlichen Beilagen, klanglichen Wirkungen, gesanglichen Vorträgen, weiblichen (!) Chören, künstlerischen Genüssen, turnerischen Übungen, studentischen Aufführungen, farblicher Stimmung, figürlichem Schmuck, winterlicher Landschaft, pflanzlicher Nahrung, abendlicher Beleuchtung, nächtlichen Gespenstern, regnerischen Tagen, ländlichem Aufenthalt, gärtnerischen Anlagen, nachbarlichen Grundstücken, dem elterlichen Hause, der gegnerischen Partei, dem endlichen (!) Resultat usw. Die „Pädagogen" reden sogar von schulischen Verhältnissen und unterrichtlicher Methode, und in Schulprogrammen kann man lesen, nicht als schlechten Witz, sondern in vollem Ernste, daß Herr Kand. X im verflossenen Jahre mit der Schule in unterrichtlichem Zusammenhang gestanden habe. Aber auch da, wo man früher den Genitiv eines Hauptwortes oder eine Präposition mit einem Hauptwort oder ein einfaches Wort setzte, drängen sich jetzt überall diese abgeschmackten Adjektiva ein; man redet von kronprinzlichen Kindern, behördlicher Genehmigung, erziehlichen Aufgaben, gedanklicher Großartigkeit, gegnerischen Vorschlägen, zeichnerischen Mitteln, einer buchhändlerischen Verkehrsordnung, gesetzgeberischen Fragen, erstinstanzlichen (!) Urteilen, stecherischer Technik, gemischtchörigen Quartetten, stimmlicher Begabung, textlichem Inhalt, baulicher Umgestaltung, seelsorgerischer Tätigkeit, wo man früher Kinder des Kron- $Seite 182$ prinzen, Genehmigung der Behörden, Aufgaben der Erziehung, Großartigkeit der Gedanken, Vorschläge des Gegners, Mittel der Zeichnung, Verkehrsordnung des Buchhandels, Fragen der Gesetzgebung, Urteile der ersten Instanz, Technik des Stechers, Quartette für gemischten Chor, Stimme, Text, Umbau, Seelsorge sagte. Ein Choralbuch wurde früher zum Hausgebrauch herausgegeben, jetzt zum häuslichen Gebrauch; eine Bildersammlung hatte früher Wert für die Kostümkunde oder Kunstwert oder Altertumswert, jetzt kostümlichen (!), künstlerischen oder altertümlichen (!) Wert. Die Sprachwissenschaft redete früher von dem Lautleben der Sprache und vom Lautwandel, jetzt nur noch von dem lautlichen Leben und dem lautlichen (!) Wandel; die Ärzte sprachen sonst von Herztönen des Kindes und von Gewebeveränderungen, unsre heutigen medizinischen Journalisten schwatzen von kindlichen (!) Herztönen//* Es handelt sich um Beobachtungen an dem noch ungebornen Kinde!// und geweblichen (!) Veränderungen. Auch Fremdwörter mit fremden Adjektivendungen werden mit in die alberne Mode hineingezogen; schon heißt es nicht mehr: Stilübungen, Religionsfreiheit, Kulturfortschritt, Maschinenbetrieb, Finanzlage, Inselvolk, Kolonieleitung, Artilleriegeschosse, Infanteriegefechte, Theaterfragen, Solo-, Chor- und Orchesterkräfte, sondern stilistische Übungen, religiöse Freiheit, kultureller Fortschritt (scheußlich!), maschineller Betrieb (scheußlich!), finanzielle Lage, insulares Volk, koloniale Leitung, artilleristische Geschosse, infanteristische Gefechte (alle Wörter auf istisch klingen ja äußerst gelehrt und vornehm!), solistische, choristische und orchestrale Kräfte. Auch von Alpenflora wird nicht mehr gesprochen, sondern nur noch von alpiner (!) Flora. Am Ende kommts noch dahin, daß einer erzählt, er habe in einer alpinen Hütte in sommerlichen Hosen sein abendliches Brot nebst einem wurstlichen Zipfel verzehrt.

$Seite 183$ Was soll die Neuerung? Soll sie der Kürze dienen? Einige der angeführten Beispiele scheinen dafür zu sprechen. Aber die Mehrzahl spricht doch dagegen; man könnte eher meinen, sie solle den Ausdruck verbreitern, ein Bestreben, das sich ja auch in vielen andern Spracherscheinungen jetzt zeigt. Man fragt vergebens nach einem vernünftigen Grunde, durch den sich diese Vorliebe für alle möglichen und unmöglichen Adjektivbildungen erklären ließe: es ist nichts als eine dumme Mode. Wenn so etwas in der Luft liegt, so steckt es heute hier, morgen da an; ob das Neugeschaffne nötig, richtig, schön sei, darnach fragt niemand, wenns nur neu ist! Um der Neuheit willen schlägt man sogar gelegentlich einmal den entgegengesetzten Weg ein. Hätte man bisher Silberhochzeit gesagt, so kann man zehn gegen eins wetten, daß sich über kurz oder lang Narren finden würden, die von nun an silberne Hochzeit sagten; da es aber bis jetzt silberne Hochzeit geheißen hat, so finden sich natürlich nun Narren, die gerade deshalb jetzt mit Vorliebe von Silberhochzeit reden. //* Fühlt man denn gar nicht, daß bei der silbernen und der goldnen Hochzeit das silbern und golden nur ein schönes Gleichnis ist, wie beim silbernen und goldnen Zeitalter? und daß, dieses Gleichnis durch Silberhochzeit sofort zerstört und die Vorstellung in plumper Weise auf das Metall gelenkt wird, das dem Jubelpaar in Gestalt von Bechern, Tafelaufsätzen u. dgl. winkt? Ober wollen wir in Zukunft auch vom Goldzeitalter reden? Wir reden von einem Bronzezeitalter, aber in wie anderm Sinne! Daß schon Goethe einmal das Wort Silberhochzeit gebraucht — in einem Brief an Schiller nennt er Gedichte Wielands Schoßkinder seines Alters, Produkte einer Silberhochzeit —, auch Rückert einmal (in trochäischen Versen, wo silberne Hochzeit gar nicht unterzubrringen gewesen wäre), will gar nichts sagen.// In einer Lebensbeschreibung Bismarcks ist gleich das erste Kapitel überschrieben: Unter dem Zeichen des Eisenkreuzes. Also aus dem geschichtlichen Eisernen Kreuze, das doch für jeden heilig und unantastbar sein sollte, wird ein Eisenkreuz gemacht — aus bloßer dummer Neuerungssucht.

Die Adjektiva auf lich bedeuten eine Ähnlichkeit; lich ist dasselbe wie Leiche, es bedeutet den Leib, die Gestalt; daher auch das Adjektivum gleich, d. i. geleich, was dieselbe Gestalt hat. Königlich ist, was die $Seite 184$ Gestalt, die Art oder das Wesen eines Königs hat. Will man nun das mit den kronprinzlichen Kindern sagen? Gewiß nicht. Man meint doch die Kinder des Kronprinzen, und nicht bloß kronprinzenartige Kinder. Was kann eine Arbeit sonntägliches haben? eine Bewegung körperliches? eine Wirkung farbliches? eine Pflicht bürgerliches? ein Herzton kindliches? eine Frage theatralisches? Gemeint ist doch wirklich die Arbeit am Sonntage, die Bewegung des Körpers, die Wirkung der Farben usw.//* Darum gehört auch die Behandlung dieses Fehlers nicht, wie manche wohl meinen könnten, in die Wortbildungslehre, sondern sie gehört in die Satzlehre. Der Fehler liegt nicht in der Bildung der Adjektiva — gebildet sind sie ja richtig —, sondern in ihrer unlogischen Anwendung.// Und hat man denn gar kein Ohr für die Häßlichkeit vieler dieser neugeschaffnen Adjektiva (fachlich, beruflich, farblich, klanglich, stimmlich, forstlich, pflanzlich, prinzlich, erziehlich)?

Hie und da mag ja ein Grund für die Neubildung zu entdecken sein, so mag zwischen Regentagen und regnerischen Tagen ein Unterschied sein: an Regentagen regnets vielleicht von früh bis zum Abend, an regnerischen (früher: regnigten) Tagen mit Unterbrechungen. Der Chordirektor, der zuerst von einem Terzett für weibliche Stimmen anstatt von einem Terzett für Frauenstimmen gesprochen hat, hatte sich wohl überlegt, daß unter den Sängerinnen auch junge Mädchen sein könnten. Und der Ratsgärtner, der seiner Behörde zuerst einen Plan zu gärtnerischen Anlagen am Theater vorlegte, hatte wohl daran gedacht, daß ein eigentlicher Garten, d. h. eine von einem Zaun oder Geländer umschlossene Anpflanzung nicht geschaffen werden sollte. Aber bedeutet denn Frau, wo sichs um die bloße Gegenüberstellung der Geschlechter handelt, nicht auch das Mädchen? Kann sich wirklich ein junges Mädchen beleidigt fühlen, wenn es aufgefordert wird, einen Frauenchor mitzusingen?//** Zu welcher Geschmacklosigkeit sich manche Leute verirren vor lauter Angst, mißverstanden zu werden, dafür noch ein Beispiel. Ein Zeichenlehrer wollte einen Unterrichtskursus für Damen ankündigen. Aber das Wort Damen wollte er als Fremdwort nicht gebrauchen, Frauen auch nicht, denn dann wären am Ende die Mädchen ausgeblieben, auf die ers besonders abgesehen hatte, Frauen und Mädchen aber auch nicht, denn dann wären vielleicht Schulmädchen mitgekommen, die er nicht haben wollte. Was kündigte er also an: Zeichenunterricht für erwachsene Personen weiblichen Geschlechts!// Und können denn nicht $Seite 185$ Gartenanlagen auch Anlagen sein, wie sie in einem Garten sind? müssen sie immer in einem Garten sein? Gärtnerische Anlagen möchte man einem Jungen wünschen, der Lust hätte, Gärtner zu werden, wiewohl es auch dann noch besser wäre, wenn er Anlagen zum Gärtner hätte. Nun vollends von einem künstlerischen Genuß zu reden statt von einem Kunstgenuß, von gärtnerischen Arbeiten statt von Gartenarbeiten (die Rekonvaleszenten der Anstalt werden mit gärtnerischen Arbeiten beschäftigt), ist doch die reine Narrheit.


Zweifelsfall

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Beispiel
Bezugsinstanz Schulsprache, neu, Zeitungssprache, Fachsprache (Musik), Fachsprache (Medizin), Fachsprache (Germanistik), Lyrik, Bismarck - Otto von, Sprachverlauf, gesprochene Sprache, neu, Goethe - Johann Wolfgang, alt, Schiller - Friedrich, Wieland - Christoph Martin, Rückert - Friedrich
Bewertung

beängstigend, für besonders schön und vornehm gilt, abgeschmackt, alberne Mode, scheußlich, dumme Mode, in plumper Weise, dumme Neuerungssucht, Fehler, unlogisch, Häßlichkeit, Geschmacklosigkeit, reine Narrheit

Intertextueller Bezug