derselbe, dieselbe, dasselbe
Buch | Wustmann (1903): Allerhand Sprachdummheiten. Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen |
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Seitenzahlen | 222 - 227 |
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Unsicherheit |
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In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle
Behandelter Zweifelfall: | |
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Genannte Bezugsinstanzen: | Sprache der Werbung, Studentensprache, Theatersprache, Kaiser Friedrich, 19. Jahrhundert, Behördensprache, Gesprochene Sprache, Schriftsprache, Literatursprache, Zeitungssprache, Wissenschaftssprache, Geschäftssprache |
Text |
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Zu den entsetzlichsten Erscheinungen unsrer Schriftsprache gehört der alles Maß übersteigende Mißbrauch, der mit dem Fürwort derselbe, dieselbe, dasselbe getrieben wird. An der Unnatur und Steifbeinigkeit unsers ganzen schriftlichen Ausdrucks trägt dieses Wort die Hälfte aller Schuld. Könnte man unsrer Schriftsprache diesen Bleiklumpen abnehmen, schon dadurch allein würde sie Flügel zu bekommen scheinen. Der Mißbrauch dieses Fürworts gehört zu den Hauptkennzeichen jener Sprache, von der nun schon so viele Beispiele in diesem Buche angeführt worden sind, und die man so treffend als papiernen Stil bezeichnet hat.//* O. Schroeder, Vom papiernen Stil. 5. Aufl. Leipzig, 1902.// Unter hundert Fällen, wo heute derselbe geschrieben wird, sind keine fünf, wo das Wort in seiner wirklichen Bedeutung (idem, le meme, the same) stünde. In der lebendigen Sprache wird es zwar in seiner wirklichen Bedeutung täglich tausendmal gebraucht, auf dem Papier aber fast gar nicht mehr; da wird es immer ersetzt durch ebenderselbe oder einundderselbe oder der nämliche oder der gleiche von dem gleichen Verfasser erschien in der gleichen Verlagsbuchhandlung usw.). Daß zur Gleichheit mindestens zwei gehören, daran denkt man gar nicht. Zwar so wunderbaren Sätzen wie: Wagner hat dieselben Quellen benutzt wie Goethe, aber in engerm Anschluß an dieselben (wo erst eosdem, dann eos gemeint ist), begegnet man selten. Aber in fünfundneunzig unter hundert Fällen ist derselbe, dieselbe, dasselbe nichts weiter als er, sie, es oder dieser, diese, dieses. Und das ist das ärgerlichste an $Seite 223$ dem dummen Mißbrauch, daß dabei auch noch der Unterschied zwischen er und dieser verwischt wird. Für das persönliche Fürwort er steht derselbe z. B. in folgenden Sätzen (man kann in wenig Minuten in jedem Buch und jeder Zeitung die Beispiele schockweise sammeln): wir brauchten das nur dann zu wissen, wenn die Welt erst noch geschaffen werden sollte; dieselbe ist aber bereits fertig — der Hauptsitz der Rosenkultur ist der Südfuß des Hämus, doch zieht sich dieselbe auch in das Mittelgebirge hinein — durch Höhe der Gebäude suchte man zu ersetzen, was denselben an Breite und Tiefe abging — was Erich Schmidt gegen die Glaubwürdigkeit Bretschneiders ins Feld führt, reicht nicht aus, dieselbe zu erschüttern — der Fall muß allgemeines Aufsehen erregt haben, da derselbe eine Bürgerstochter aus guter Familie betraf — neuerdings hat man versucht, den Reim durch die Alliteration zu verdrängen; Jordan hat dieselbe eingeführt, und R. Wagner hat dieselbe in freier Weise verwandt — ich hatte mir gleich anfangs ein Brunnenglas gekauft, aber dasselbe blieb jungfräulich — die Gemeinde war allerdings Besitzer des Bodens, derselbe wurde aber nicht gemeinschaftlich bearbeitet — das Manuskript lag halbvergessen in einem Schubfache, bis mir die Anregung wurde, dasselbe einer Zeitung zu überlassen — Versuche, den Verein zu verfolgen, werden demselben nur neues Wachstum verleihen — der Inhaber hat die Karte stets bei sich zu führen und darf dieselbe an andre Personen nicht weitergeben — der Nebensatz steht gewöhnlich hinter dem Hauptsatz, derselbe kann jedoch auch dem Hauptsatz vorangehen, und endlich kann derselbe auch in den Hauptsatz eingeschaltet sein. Kein vernünftiger Mensch spricht so; jeder braucht, um ein eben dagewesenes Hauptwort zu ersetzen, in der lebendigen Sprache das persönliche Fürwort. In folgenden Sätzen wäre dieser (oder das demonstrative der) das richtige: der Wildbach trat aus und wälzte große Schuttmassen in die Limmat; dadurch wurde dieselbe in ihrem Laufe gehemmt — in Königsberg ließ Lenz seine Ode auf Kant drucken, als derselbe $Seite 224$ die Professorwürde erlangte — in jeder Küche stand früher ein viereckiges Kästchen aus Blech, dasselbe enthielt vier Gegenstände, unter anderm eine Masse, die man Zunder hieß; dieselbe war hergestellt aus usw. — es finden sich in der Schrift bisweilen originelle Kombinationen; dieselben sind aber doch völlig wertlos — freilich gehört Anlagekapital dazu, dasselbe verzinst sich aber gut — für die lokale Feier sind entsprechende Festlichkeiten in Aussicht genommen; denselben werden geistliche Festlichkeiten vorausgehen — das Ergebnis der Revolution wäre sicher nicht der sozialdemokratische Staat; derselbe (dieser!) verlangt eine solche Umwälzung aller Anschauungen, daß sich dieselbe (sie sich!) nicht von heute auf morgen vollziehen kann. Ein Zeitungschreiber kann heutzutage nicht eine Mitteilung von zwei Zeilen machen ohne dieses unsinnige derselbe; erst wenn das drinsteht, dann hat die Sache die nötige Wichtigkeit. Der Adjutant des Sultans ist hier eingetroffen; derselbe überbrachte dem Großfürsten vier Pferde. Daß man nur ja nicht etwa denke, es habe sie ein andrer überbracht! nein nein, es war derselbe! Ach, und wenn nun erst noch die schöne Inversion dazu kommt (der Verdacht lenkte sich sofort auf den wegen Nachlässigkeit bekannten Hausmann, und wurde derselbe in einem Bodenraum erhängt aufgefunden), und wenn gar die Inversion nur zu dem Zweck angewandt wird, auch das herrliche derselbe anbringen zu können (die Zigarren erheben sich weit über das gewöhnliche Niveau, und gehören dieselben zu den besten usw.), oder wenn sich zu derselbe noch ein daselbst, dortselbst, hierselbst oder woselbst gesellt (denn da, dort, hier und wo kennt der Zeitungschreiber auch nicht, das ist ihm viel zu simpel), dann schwillt die stolze Reporterbrust, er weiß, daß er seinen „bedeutsamen" Mitteilungen den „würdigsten" Ausdruck verliehen hat. Zur Resolution sprach bei Beginn der Sitzung der Abgeordnete T.; derselbe erklärte sich gegen dieselbe — der Ulan M. erhielt drei Tage Mittelarrest, weil derselbe beim Appell sein Pferd schlecht vorführte, sodaß dasselbe einen Kameraden auf den Fuß trat und $Seite 225$ denselben verletzte — gestern abend ist der Herr Justizminister hierselbst eingetroffen und im Hotel G. abgestiegen. Derselbe begab sich heute morgen nach dem Amtsgerichtsgebände, nahm dasselbe eingehend in Augenschein und wohnte verschiednen Verhandlungen daselbst bei — heute wurde hier eine Windhose beobachtet: dieselbe erfaßte einen Teil des auf der Wiese liegenden Heues und drehte dasselbe turmhoch in die Luft, woselbst es dann weiter geführt wurde, bis es in der Stadt niederfiel — die Färbung der Kreuzotter ist nicht bestimmt anzugeben, da dieselbe bei einunddemselben (!) Individuum (!) wechselt und nach der Häutung meist heller erscheint als vor derselben. Das sind wahre Muster von Zeitungssätzen. Aber auch in wissenschaftlichen Werken und in Erzählungen, in Bekanntmachungen von Behörden und in Geschäftsanzeigen — überall verfolgt einen das entsetzliche Wort. Selbst in den kleinen Scherzgesprächen unter den Bildern der Fliegenden Blätter und in dem Dialog der neuesten Lustspiele ist man nicht mehr sicher davor. Man schnellt im Theater von seinem Sitz in die Höhe, wenn auf der Bühne so ein dummes derselbe (für er) gesprochen wird; aber weder der Schauspieler noch der Regisseur hat es bemerkt! Wie kommt es nur, liebe B. — heißt es auf einem Reklamebildchen —, daß deine Kinderchen stets so blühend und gesund sind, während die meinigen immer bleich und kränklich aussehen? — Wir genießen alle als tägliches Getränk Kakao von Hartwig und Vogel; derselbe ist von anerkannt vorzüglicher Qualität, ergiebig und daher billig. Nein, so spricht die liebe B. nicht. Ein bekanntes Geschichtchen erzählt, daß der Lehrer in der Stunde gefragt habe: wie viel Elemente gibt es, und wie heißen sie? und der Schüler geantwortet habe: es gibt vier Elemente, und ich heiße Müller. Das war die Folge davon, daß sich der Lehrer so gewöhnlich ausgedrückt hatte! Warum hatte er nicht vornehm gefragt, wie unsre statistischen Formulare: und wie heißen dieselben! Die Krone der Papiersprache ist es, wenn, wie es tausendfach geschieht, beide in einem Satz unmittelbar $Seite 226$ nebeneinander stehen, die herrlichen Papierpronomina: derselbe (statt: er) und welcher (statt: der)! Zum Verständnis des Parzival ist es nötig, die beiden Sagenkreise, welche demselben (die ihm!) zu Grunde liegen, kennen zu lernen — in Hyrtls Hause befindet sich der fragliche Schädel (Mozarts), und der Besitzer, welcher denselben (der ihn!) der Stadt Salzburg vermacht hat, zweifelt nicht an der Echtheit desselben — Reiskes Briefe kamen in die Universitätsbibliothek zu Leiden; es sind aufrichtige Verehrer gewesen, welche dieselben (die sie!) jener Bibliothek schenkten, und sie werden in derselben als ein Schatz geachtet — das erwähnte Statut und die Bulle, welche dasselbe (die es!) sanktioniert hatte — bezeichnend für den Geschmack der Direktion und die Zumutungen, welche dieselbe (die sie!) an das Publikum zu stellen wagt — was fur Forderungen an die Gebildeten gestellt werden, wird je nach dem Zeitalter, welchem dieselben (dem sie!) angeboren, verschieden sein — die farbige Aufnahme des Fensters verdanken wir Herrn E., welcher dasselbe (der es!) restauriert hat — wer spricht so? Kein Mensch! Aber sowie der Deutsche die Feder in die Tinte taucht, fährt ihm der Registrator oder der Kanzlist in die Glieder. Im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert sind Tausende der wichtigsten Urkunden angefangen worden: Wir tun kund mit diesem Brief allen denen, die ihn sehen oder hören lesen. Heute in einem Ehrenbürgerbriefe zu schreiben: Wir ernennen Herrn X wegen der großen Verdienste, die er sich um unsre Stadt erworben hat usw. — das wäre ja im höchsten Grade würdelos, so spricht man wohl, aber so schreibt man doch nicht! Wir ernennen Herrn X in Anbetracht der großen Verdienste, welche derselbe um unsre Stadt sich erworben hat usw. — so klingts großartig, feierlich, erhaben! Kaiser Friedrich soll als Kronprinz 1859 zu einer Deputation gesagt haben: Wenn Gott meinen Sohn am Leben erhält, so wird es unsre schönste Aufgabe sein, denselben in den Gesinnungen und Gefühlen zu erziehen, welche mich an das Vaterland ketten. Man kann darauf schwören, daß er nicht so gesagt hat, $Seite 227$ sondern ihn in den Gesinnungen und Gefühlen zu erziehen, die mich an das Vaterland ketten. Aber der Zeitungschreiber hat das natürlich erst aus dem Menschlichen ins Papierne übersetzen müssen. In der Poesie ist derselbe noch viel unmöglicher als welcher. Nur in dem alten Studentenliede Ca ca geschmauset! heißt es: Knaster den gelben Hat uns Apolda präpariert Und uns denselben Rekommandiert. |
Zweifelsfall | |
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Beispiel |
derselbe, dieselbe, dasselbe |
Bezugsinstanz | 19. Jahrhundert, Behördensprache, Literatursprache, Zeitungssprache, Geschäftssprache, Kaiser Friedrich, gesprochene Sprache, Theatersprache, Schriftsprache, Sprache der Werbung, Studentensprache, Wissenschaftssprache |
Bewertung |
Bleiklumpen, dumm, dummer Missbrauch, entsetzlich, Missbrauch, richtig, unmöglich, unsinnig |
Intertextueller Bezug |