Mit langem roten oder langem rotem Barte?

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Buch Matthias (1929): Sprachleben und Sprachschäden. Ein Führer durch die Schwankungen und Schwierigkeiten des deutschen Sprachgebrauchs.
Seitenzahlen 65 - 68

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Unsicherheit
Text

Eine Ausbreitung der schwachen Formen weit über die für sie nachgewiesenen Grenzen hinaus bedeutet es, wenn Sprachlehrer von mehreren ohne eins der § 77, 81 und 82 a. E. genannten Bestimmungswörter vor einem Substantiv (S) stehenden Adjektiven (a1, a2, a3), falls das erste dem zweiten oder auch zweiten und dritten u.s.f.) und dem Substantiv zusammen als einer Einheit für sich allein gegenübersteht, etwa in der Formel a1+(a2+ a3 + ... S), nur für das erste die starke, für das oder die folgenden die $Seite66$ schwache Deklination fordern //1 Zu ihnen gehört selbst Paul, der Prinzipien 117 in solchem Gebrauche der starken und schwachen Form ein Mittel anerkennt, die Verhältnisse der Beiordnung und Einschließung zu unterscheiden, freilich selbst hinzufügt, daß sich die Schwierigkeit einer korrekten Aufrechterhaltung dieser Unterscheidung in vielen Verstößen der Schriftsteller zeige. Daß man, wie Andresen ausführt, das (nach ihm!) falsche neuer holländischer Heringe öfter liest, hätte ihn doch allein belehren können, wie wenig sich das Volk auf solche Grübeleien einläßt; es begnügt sich mit dem bekannten Mittel, das enger Zusammengehörige enger zusammen zu rücken (holländische[r] Heringe) und erst davor das neue Attribut neue(r) zu setzen. Gar lächerlich ist auch die Unterscheidung zwischen gutem weißen Weine, bei welcher Form dem Schreiber die Farbe selbstverständlich sei, und gutem weißem Weine, wodurch dieser vom roten unterschieden werde. Die Hauptsache ist, daß die Regel immer nur für den 2. Fall der Mehr- und 3. Fall der männlichen und sächlichen Einzahl erläutert und geltend gemacht wird; das sind aber gerade die zwei Fälle, deren vor den anderen noch auffällige, charakteristische Endungen unter der immer stärker werdenden Abneigung gegen die Kasusendungen, besonders die auf -m, wie unter der nicht genügenden Klarheit über sie am meisten zu leiden haben, so daß es offenbar lediglich eine durch falsche Pflege und durch Bequemlichkeit verschuldete Mißbildung ist, was durch die ausgeklügelte Regel vergeistigend zu einem feinen, neuen Unterscheidungsmittel emporgeschraubt werden soll. Daß Bequemlichkeit und Abneigung gegen gewisse der Zunge nicht sonderlich bequem liegende Endungen wirklich die Schuld trägt, geht auch daraus hervor, daß oft in ganzen sonst vortrefflich geschriebenen Büchern von zwei Adjektiven vor einem Femininum nie das erste stark, das zweite schwach dekliniert gefunden wird, wohl aber häufig vor männlichen und sächlichen Dativen das erste mit der Endung -m, das zweite mit -n. Bei Bornhak, Die Fürstinnen auf dem Throne der Hohenzollern, steht z. B.: er kehrte allein zurück in die Gruft zu langem, ernsten Verweilen, wo das Komma die Begründung mit Über- und Unterordnung ausschließt, bei E. Richter, Zeitschrift des D. u. Ö. A. V. XXVII, 1 ff. nicht nur oft ähnlich: Fahrzeuge mit hohem, scharfen Bug, sondern ebenda S. 80 sogar aus der Feder Prof. Dr. Fr. Ratzels: in mehr kulturlichem und politischen Sinne, bei E. Troeltsch gar: in starkem, wenn auch jedesmal andersartigen Gegensatz. Bei M. Ebeling, Blicke in vergessene Winkel, steht z. B. nebeneinander: fester, gesunder christlicher Sitte, wo auch durch das Komma deutlich die sinngemäße Auffassung (a1+a2)+(a3+S) ausgedrückt und doch für alle Adjektive die gleiche starke Form gewählt ist, und also frischen Most mit altem milden Weine in neue Schläuche gefüllt, wo keine Vernunft, sondern bloße Bequemlichkeit an der verschiedenen Dativform schuld sein kann. Fr. Bab (1914) bringt gar fertig: aus so viel Gutem und Schlimmen, Falschem und Echten. — Einen klaren Überblick über die Entwicklung gibt H. Dunger in der Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins, 1903, Nr. 12, S. 360—365. Aus neuer und neuester Zeit seien als Muster sorgfältiger Durchführung zwei- und dreifacher starker Formen auch männlichen und sächlichen Geschlechts genannt: Hölderlin, G. Keller, Ad. Stifter, Fr. Th. Vischer, G. Egelhaaf, C. Flaischlen (Jost Seyfried), Bierbaum (Prinz Kuckuck); W. Jordan; Sidney Whitmann (Deutsche Erinnerungen 1913), Phil. Witkop; Kerler (Jenseits von Optimismus und Pessimismus); H. R. Bartsch; Paul Ernst; Scheler (Die Ursachen des Deutschenhasses 1917); Osk. A. H. Schmitz; Th. Mann (Betrachtungen eines Unpolitischen 1919); H. Stegemann (Geschichte des Krieges); überwiegend auch Fürst Bülow (Deutsche Politik); Jos. Radler (Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, 3 Bbe. 1913—1918); Berthold Litzmann; Gjellerup (Der goldene Zweig), 1917; Wilh. Wundt, W. v. Kohlenegg; der Übersetzer von Paléologue „Am Zarenhof", J. G. Sprengel, G. Neckel. Sie folgen keinem Geringeren als Jakob Grimm.//. Damit übertragen sie aber die Notwendigkeit, zwischen Bestimmungs- und eigentlichen Eigenschaftswörtern zu unterscheiden, was leicht ist, auf mehrere eigentliche Eigenschaftswörter, über deren gegenseitige Bei-, Über- und Unterordnung nie allgemeine Übereinstimmung erzielt werden kann und wird. Kein Wunder also, wenn solchen Aufstellungen weder die Klassiker noch die Zeitungen und Bücher vom Tage immer entsprechen. Anderseits darf aber auch daraus, daß an $Seite67$ allen diesen Stätten auch (scheinbare) Belege für dieselben gefunden werden, kein Schluß auf ihre Richtigkeit gezogen werden. Vor allem nicht aus mannigfachem Zutreffen jener Regel bei den Klassikern; denn in solcher Beziehung war damals noch vieles fließend und schwankend, und während ihre Geister so hoch und schnell über die Vorgänger emporrückten, waren sie mit der Form, mit den Sprachmitteln lange nicht gleich weit, nicht viele Jahrzehnte über jene Männer hinaus; diese Vorgänger aber — die ersten Geister ihrer Zeit — haben beim Dative selbst des einzelnen Adjektivs, ja des Artikels dieselben Fehler gemacht, wie jetzt vor allem Kinder und Erwachsene, darunter auch die buntgemischten Zeitungsberichterstatter, aus bequem, d. h. fast ohne Dativ-m redenden Familien und Volkskreisen. Nur ein Beispiel: der große Thomasius fordert zur Mitarbeiterschaft alle die auf, „welche ihre ... Vernunft zu ... den allgemeinen menschlichen Heil rechtschaffen anwenden!" Woher es aber kommt, wenn solche Fehler, wie sie diesem Vater der deutsch geschriebenen Unterhaltungsblätter niemand anrechnen wird, wenigstens beim Zusammentreffen mehrerer Adjektive heute nach zweihundert Jahren noch ebenso allgemein sind, daß selbst in einer Lehrerzeitung zu lesen ist: Lehrer von warmem inneren Beruf? Das kommt teils von der Aufstellung jener haarspalterischen Regel, deren Unzulänglichkeit ihre Verteidiger selbst zugeben und deren Anwendung nie eine gleichmäßige werden kann; teils von der Unkenntnis der allein richtigen und alles klärenden Vorschrift, wonach mehrere vor einem Hauptworte stehende Attribute alle zusammen ebenso zu behandeln sind wie ein einzelnes, d. h. alle schwach oder alle stark, je nachdem die in § 77 und 81 aufgezählten Bestimmungswörter vorangehen oder nicht //1 Anders ist es, wenn mehrere Bestimmungswörter zusammentreffen; diese werden beide stark dekliniert, wenn auch das zweite nie den Artikel verträgt: an diesem meinem Unglückstage, jeder solcher Vorfall, von diesem seinem ganzen Drömlingsholze; und nur dann wird das zweite schwach gebeugt, wenn es den Artikel vor sich haben kann: dieses viele Gerede; jene beiden Stände (und nur seltener noch beide jene Stände). Übrigens steht bloßes beide immer betont und mit der Wirkung, „unabhängig vom vorhergehenden Zustand einer im Augenblick der Aussage durch das Fürwort erst hergestellten Einheit" oder der Schaffung einer Einheit durch die Beilegung zweier übereinstimmender Prädikate" zu dienen (O. Behaghel, Zeitschr. f. d. d. U. XXXII, 37—42).//. Deshalb soll der Entwicklung solcher offenbar keine Eigenschaft angebenden Wörter wie gewiß, derartig, folgend, besagt, sonstig u. ä. zu vollständigen Bestimmungswörtern durchaus kein Riegel vorgeschoben werden. Wenn man also auch die Fügungen billigt: derartige Kranken, besagter liebenswürdigen Meldung halber, folgendes gute Mittel, muß man sonst durchaus scheiden: auf unserm von Warnungstafeln durchsteckten, staubigen, brüchigen Lebenspfade und: auf des Lebens von Warnungstafeln durchstecktem, staubigem, brüchigem Pfade (Th. Vischer) oder: zwischen des heiligen Xanthos immer fließendem Schmuck und des Simois steinigem, breitem, trockenem Bette (Goethe) oder: von so reichem, technischem, psychologischem und ästhetischem Interesse (P. Heyse); aus jener nun schon vergangnen lieben- und aus vergangner lieber Zeit (H. Hoffmann), auf seinem morschen, alten- und: auf morschem, altem Gebälk; der Preis der neuen holländischen- und eine Sendung neuer holländischer Heringe. Der von Paul mit Recht für wichtig gehaltenen Unterscheidung zwischen $Seite68$ Beiordnung und Einschließung (S. 66, Anm. //1 Th. Steche, Die neuhochdeutsche Wortbiegung, 1927, S. 170, möchte schon einheitlich regeln: Ein Beiwort (gleichviel ob als solches stehend oder als Hauptwort gebraucht) wird nach einem Fürwort mit Endung schwach gebeugt, aber nach einem andern Beiwort mit starker Endung ebenfalls stark."//) wird gedient, indem zwischen beigeordneten Eigenschaftswörtern ein Komma steht, nicht aber hinter solchen, die vor die schon festere Verbindung der Adjektive mit dem Substantiv treten. Z. B. die Überschätzung der hochgewachsenen, langschädeligen, schmalgesichtigen, rosigweißen, hellblonden und helläugigen Rasse des Nordens oder: der nordischen hochgewachsenen, langschädlichen usw. Rasse; eine große, freie angelsächsische Kolonie; lehrreiche physikalische Versuche; bei gutem, warmem Wetter; aber: auf bestem holzfreiem Papier.


Zweifelsfall

Interpunktion: Komma

Beispiel
Bezugsinstanz Bornhak - Friederike, Richter - Eduard, neu, Ratzel - Friedrich, Troeltsch - Ernst, Ebeling - Max
Bewertung
Intertextueller Bezug Dunger, Hermann: Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins, 1903, Nr. 12, S. 360-365, Th. Steche, Die neuhochdeutsche Wortbiegung, 1927, S. 170


Zweifelsfall

Adjektiv: Parallelflexion oder Wechselflexion bei Reihungen

Beispiel

milden, neuer holländischer, neuer, holländischer, gutem weißen Weine, gutem weißem Weine, roten, er kehrte allein zurück in die Gruft zu langem, ernsten Verweilen, Fahrzeuge mit hohem, scharfen Bug, in mehr kulturlichem und politischen Sinne, in starkem, wenn auch jedesmal andersartigen Gegensatz, fester, gesunder christlicher Sitte, altem, Gutem, Schlimmen, aus so viel Gutem und Schlimmen, Falschem und Echten, aus so viel Gutem und Schlimmen, Falschem und Echten, den, von warmem innereren Beruf, gewiss, derartig, folgend, besagt, sonstig, derartige Kranken, besagter liebenswürdigen Meldung halber, folgendes gute Mittel, durchsteckten, staubigen, brüchigen Lebenspfade, durchstecktem, staubigem, brüchigem Pfade, steinigem, breitem, trockenem Bette, von so reichem , technischem , psychologischem und ästhetischem Interesse, aus jener nun schon vergangenen lieben, aus vergangner lieber Zeit, auf smorschen, alten Bebälk, der Preis der neuen holländischen Heringe, eine Sendung neuer holländischer heringe, an diesem meinem, jeder, von diesem seinem ganzen Drömlings, dieses viele Gerede, jene, beide jene Stände, beide, die Überschätzung der hochgewachsenen, langschädeligen, schmalgesichtigen, rosigweißen, hellblonden und helläugigen Rasse des Nordens, der nordischen hochgewachsenen, langschädlichen Rasse, eine große, freie angelsächsische Kolonie, lehrreiche physikalische Versuche, bei gutem, warmen Wetter, auf bestem holzfreiem, neue

Bezugsinstanz Andresen - Carl Gustav, Bab - Friedrich, neu, Bartsch - Rudolf Hans, Behaghel - Otto, Bierbaum - Otto Julius, Bornhak - Friederike, Schriftsprache, alt, Rottenberg - Leontine, Ebeling - Max, Egelhaaf - Gottlob, Ernst - Paul, Familie, Familie, Flaischlen - Cäsar, Bülow - Bernhard von, Gjellerup - Karl, Goethe - Johann Wolfgang, Grimm - Jacob, gegenwärtig, Heyse - Paul, Hoffmann - Hans, Hölderlin - Friedrich, Jordan - Wilhelm, Keller - Gottfried, Kerler - Dietrich Heinrich, Kindersprache, Literatursprache, Kohlenegg - Viktor von, Schulsprache, Litzmann - Berthold, Mann - Thomas, Sprachverlauf, Neckel - Gustav, neuhochdeutsch, Paul - Hermann, Ratzel - Friedrich, Radler - Josef, Richter - Eduard, Scheler - Max, Schmitz - Oscar A.H., Literatursprache, Sprachgelehrsamkeit, Sprengel - Johann Georg, Steche - Theodor, Stegemann - Hermann, Stifter - Adalbert, Thomasius - Christian, Troeltsch - Ernst, Zeitungssprache, Familie, Vischer - Friedrich Theodor, Vischer - Friedrich Theodor, Volk, Whitman - Sidney, Witkop - Philipp, Wundt - Wilhelm, Sprache der Vereine, Sprachgelehrsamkeit, Zeitungssprache, Zeitungssprache
Bewertung

bequem, der Zunge nicht sonderlich bequem, durch Bequemlichkeit verschuldete Missbildung, falsche Pflege, Fehler, Frequenz/eine Ausbreitung weit über die Grenzen hinaus, Frequenz/selten, gleichmäßig, haarspalterische Regel, immer stärker werdende Abneigung, lächerlich, nicht genügend Klarheit, richtig, schwankend, Unkenntnis, wichtig, keine Vernunft, sondern bloße Bequemlichkeit

Intertextueller Bezug Dunger, Hermann: Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins, 1903, Nr. 12, S. 360-365, O. Behaghel, Zeitschr. f. d. d. U. XXXII, 37-42, Th. Steche, Die neuhochdeutsche Wortbiegung, 1927, S. 170